Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
noch minder bloß "erhabne Züge fürs Gehör",
sondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß
nicht, wie Hr. L. sich im Lobe Virgils so lange a) bei
den Nebenzügen, "Windungen der Schlangen" u.
s. w. aufhält, die bei dem Maler und Bildhauer, ge-
wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie-
nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Künst-
lers gearbeitet hätte! Jst das aber nicht wider den
Zweck des ganzen Lessingschen Werkes?

Und was er gegen Virgil zu nachsehend ist:
wird er gegen Petron zu strenge b), da sich doch die
meisten dieser Vorwürfe sicherer auf Virgil gegen
Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu-
ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu
dichten, und gestehe gern zu, daß aus seiner Be-
schreibung Laokoons kein Funke poetisches Genies
hervorblitze: muß aber darum das Gemälde, das
er beschreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge-
mälden zu Neapel nur in seiner Einbildungskraft
existirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro-
manschreiber kein Historikus seyn darf? seyn darf!
freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht seyn
müßte; nicht seyn könnte? zumal die schlechten Ro-
manschreiber. Sie ersetzen uns das durch einge-
schaltete Geschichte, was ihre Phantasie brüchig
läßt: sie liefern uns halbhistorische Romane, oder
romanhafte Halbgeschichte: der Abt Terrasson,

mit
a) Laok. p. 59-66.
b) Laok. p. 54. 55.

Kritiſche Waͤlder.
noch minder bloß „erhabne Zuͤge fuͤrs Gehoͤr„,
ſondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß
nicht, wie Hr. L. ſich im Lobe Virgils ſo lange a) bei
den Nebenzuͤgen, „Windungen der Schlangen„ u.
ſ. w. aufhaͤlt, die bei dem Maler und Bildhauer, ge-
wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie-
nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Kuͤnſt-
lers gearbeitet haͤtte! Jſt das aber nicht wider den
Zweck des ganzen Leſſingſchen Werkes?

Und was er gegen Virgil zu nachſehend iſt:
wird er gegen Petron zu ſtrenge b), da ſich doch die
meiſten dieſer Vorwuͤrfe ſicherer auf Virgil gegen
Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu-
ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu
dichten, und geſtehe gern zu, daß aus ſeiner Be-
ſchreibung Laokoons kein Funke poetiſches Genies
hervorblitze: muß aber darum das Gemaͤlde, das
er beſchreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge-
maͤlden zu Neapel nur in ſeiner Einbildungskraft
exiſtirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro-
manſchreiber kein Hiſtorikus ſeyn darf? ſeyn darf!
freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht ſeyn
muͤßte; nicht ſeyn koͤnnte? zumal die ſchlechten Ro-
manſchreiber. Sie erſetzen uns das durch einge-
ſchaltete Geſchichte, was ihre Phantaſie bruͤchig
laͤßt: ſie liefern uns halbhiſtoriſche Romane, oder
romanhafte Halbgeſchichte: der Abt Terraſſon,

mit
a) Laok. p. 59-66.
b) Laok. p. 54. 55.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="102"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
noch minder bloß &#x201E;erhabne Zu&#x0364;ge fu&#x0364;rs Geho&#x0364;r&#x201E;,<lb/>
&#x017F;ondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß<lb/>
nicht, wie Hr. L. &#x017F;ich im Lobe Virgils &#x017F;o lange <note place="foot" n="a)">Laok. <hi rendition="#aq">p.</hi> 59-66.</note> bei<lb/>
den Nebenzu&#x0364;gen, &#x201E;Windungen der Schlangen&#x201E; u.<lb/>
&#x017F;. w. aufha&#x0364;lt, die bei dem Maler und Bildhauer, ge-<lb/>
wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie-<lb/>
nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
lers gearbeitet ha&#x0364;tte! J&#x017F;t das aber nicht wider den<lb/>
Zweck des ganzen Le&#x017F;&#x017F;ing&#x017F;chen Werkes?</p><lb/>
          <p>Und was er gegen Virgil zu nach&#x017F;ehend i&#x017F;t:<lb/>
wird er gegen Petron zu &#x017F;trenge <note place="foot" n="b)">Laok. <hi rendition="#aq">p.</hi> 54. 55.</note>, da &#x017F;ich doch die<lb/>
mei&#x017F;ten die&#x017F;er Vorwu&#x0364;rfe &#x017F;icherer auf Virgil gegen<lb/>
Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu-<lb/>
ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu<lb/>
dichten, und ge&#x017F;tehe gern zu, daß aus &#x017F;einer Be-<lb/>
&#x017F;chreibung Laokoons kein Funke poeti&#x017F;ches Genies<lb/>
hervorblitze: muß aber darum das Gema&#x0364;lde, das<lb/>
er be&#x017F;chreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge-<lb/>
ma&#x0364;lden zu Neapel nur in &#x017F;einer Einbildungskraft<lb/>
exi&#x017F;tirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro-<lb/>
man&#x017F;chreiber kein Hi&#x017F;torikus &#x017F;eyn darf? &#x017F;eyn darf!<lb/>
freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht &#x017F;eyn<lb/>
mu&#x0364;ßte; nicht &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte? zumal die &#x017F;chlechten Ro-<lb/>
man&#x017F;chreiber. Sie er&#x017F;etzen uns das durch einge-<lb/>
&#x017F;chaltete Ge&#x017F;chichte, was ihre Phanta&#x017F;ie bru&#x0364;chig<lb/>
la&#x0364;ßt: &#x017F;ie liefern uns halbhi&#x017F;tori&#x017F;che Romane, oder<lb/>
romanhafte Halbge&#x017F;chichte: der Abt Terra&#x017F;&#x017F;on,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0108] Kritiſche Waͤlder. noch minder bloß „erhabne Zuͤge fuͤrs Gehoͤr„, ſondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß nicht, wie Hr. L. ſich im Lobe Virgils ſo lange a) bei den Nebenzuͤgen, „Windungen der Schlangen„ u. ſ. w. aufhaͤlt, die bei dem Maler und Bildhauer, ge- wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie- nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Kuͤnſt- lers gearbeitet haͤtte! Jſt das aber nicht wider den Zweck des ganzen Leſſingſchen Werkes? Und was er gegen Virgil zu nachſehend iſt: wird er gegen Petron zu ſtrenge b), da ſich doch die meiſten dieſer Vorwuͤrfe ſicherer auf Virgil gegen Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu- ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu dichten, und geſtehe gern zu, daß aus ſeiner Be- ſchreibung Laokoons kein Funke poetiſches Genies hervorblitze: muß aber darum das Gemaͤlde, das er beſchreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge- maͤlden zu Neapel nur in ſeiner Einbildungskraft exiſtirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro- manſchreiber kein Hiſtorikus ſeyn darf? ſeyn darf! freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht ſeyn muͤßte; nicht ſeyn koͤnnte? zumal die ſchlechten Ro- manſchreiber. Sie erſetzen uns das durch einge- ſchaltete Geſchichte, was ihre Phantaſie bruͤchig laͤßt: ſie liefern uns halbhiſtoriſche Romane, oder romanhafte Halbgeſchichte: der Abt Terraſſon, mit a) Laok. p. 59-66. b) Laok. p. 54. 55.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/108
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/108>, abgerufen am 22.11.2024.