Der wahre Lutheraner will nicht bei Lu- thers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt seyn; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen, in der Erkenntniß der Wahrheit nach seinem eig- nen Gutdünken fortzugehen, hindern muß. Aber man hindert Alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntniß andern mitzutheilen. Denn ohne diese Mittheilung im Einzeln ist kein Fortgang im Ganzen möglich." *)
65.
"Jeder Mensch hat seinen eignen Styl; was kann ich dafür, daß ich nun einmal kei- nen andern Styl habe? Daß ich ihn nicht erkünstle, bin ich mir bewußt. -- Es kommt wenig darauf an, wie wir schreiben; aber viel, wie wir denken. Man wird doch wohl nicht behaupten, daß unter verblümten Bilderreichen Worten nothwendig ein schwankender, schiefer
*) Th. 6. S. 23. 162.
Der wahre Lutheraner will nicht bei Lu- thers Schriften, er will bei Luthers Geiſte geſchuͤtzt ſeyn; und Luthers Geiſt erfordert ſchlechterdings, daß man keinen Menſchen, in der Erkenntniß der Wahrheit nach ſeinem eig- nen Gutduͤnken fortzugehen, hindern muß. Aber man hindert Alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, ſeinen Fortgang in der Erkenntniß andern mitzutheilen. Denn ohne dieſe Mittheilung im Einzeln iſt kein Fortgang im Ganzen moͤglich.“ *)
65.
„Jeder Menſch hat ſeinen eignen Styl; was kann ich dafuͤr, daß ich nun einmal kei- nen andern Styl habe? Daß ich ihn nicht erkuͤnſtle, bin ich mir bewußt. — Es kommt wenig darauf an, wie wir ſchreiben; aber viel, wie wir denken. Man wird doch wohl nicht behaupten, daß unter verbluͤmten Bilderreichen Worten nothwendig ein ſchwankender, ſchiefer
*) Th. 6. S. 23. 162.
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Der wahre Lutheraner will nicht bei Lu-
thers Schriften, er will bei Luthers Geiſte
geſchuͤtzt ſeyn; und Luthers Geiſt erfordert
ſchlechterdings, daß man keinen Menſchen, in
der Erkenntniß der Wahrheit nach ſeinem eig-
nen Gutduͤnken fortzugehen, hindern muß.
Aber man hindert Alle daran, wenn man auch
nur Einem verbieten will, ſeinen Fortgang in
der Erkenntniß andern mitzutheilen. Denn
ohne dieſe Mittheilung im Einzeln iſt kein
Fortgang im Ganzen moͤglich.“ *)
65.
„Jeder Menſch hat ſeinen eignen Styl;
was kann ich dafuͤr, daß ich nun einmal kei-
nen andern Styl habe? Daß ich ihn nicht
erkuͤnſtle, bin ich mir bewußt. — Es kommt
wenig darauf an, wie wir ſchreiben; aber viel,
wie wir denken. Man wird doch wohl nicht
behaupten, daß unter verbluͤmten Bilderreichen
Worten nothwendig ein ſchwankender, ſchiefer
*) Th. 6. S. 23. 162.
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/153>, abgerufen am 16.02.2025.
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