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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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47.

Wozu die fruchtlosen Untersuchungen der
Wahrheit, wenn sich über die Vorurtheile un-
srer ersten Erziehung doch kein dauerhafter
Sieg erhalten läßt? wenn diese nie auszurot-
ten, sondern höchstens nur in eine kürzere oder
längere Flucht zu bringen sind, aus welcher
sie wiederum auf uns zurückstürzen, eben wenn
uns ein andrer Feind die Waffen entrissen
oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns
ehedem gegen sie bedienten? Nein, nein;
einen so grausamen Spott treibt der Schö-
pfer mit uns nicht. Wer daher in Bestrei-
tung aller Arten von Vorurtheilen niemals
schüchtern, niemals laß zu werden wünschet,
der besiege ja dieses Vorurtheil zuerst, daß die
Eindrücke unsrer Kindheit nicht zu vernichten
wären. Die Begriffe, die uns von Wahrheit
und Unwahrheit in unsrer Kindheit beige-
bracht werden, sind gerade die allerflachsten,
die sich am allerleichtesten durch selbsterwor-

47.

Wozu die fruchtloſen Unterſuchungen der
Wahrheit, wenn ſich uͤber die Vorurtheile un-
ſrer erſten Erziehung doch kein dauerhafter
Sieg erhalten laͤßt? wenn dieſe nie auszurot-
ten, ſondern hoͤchſtens nur in eine kuͤrzere oder
laͤngere Flucht zu bringen ſind, aus welcher
ſie wiederum auf uns zuruͤckſtuͤrzen, eben wenn
uns ein andrer Feind die Waffen entriſſen
oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns
ehedem gegen ſie bedienten? Nein, nein;
einen ſo grauſamen Spott treibt der Schoͤ-
pfer mit uns nicht. Wer daher in Beſtrei-
tung aller Arten von Vorurtheilen niemals
ſchuͤchtern, niemals laß zu werden wuͤnſchet,
der beſiege ja dieſes Vorurtheil zuerſt, daß die
Eindruͤcke unſrer Kindheit nicht zu vernichten
waͤren. Die Begriffe, die uns von Wahrheit
und Unwahrheit in unſrer Kindheit beige-
bracht werden, ſind gerade die allerflachſten,
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[120/0127] 47. Wozu die fruchtloſen Unterſuchungen der Wahrheit, wenn ſich uͤber die Vorurtheile un- ſrer erſten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten laͤßt? wenn dieſe nie auszurot- ten, ſondern hoͤchſtens nur in eine kuͤrzere oder laͤngere Flucht zu bringen ſind, aus welcher ſie wiederum auf uns zuruͤckſtuͤrzen, eben wenn uns ein andrer Feind die Waffen entriſſen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns ehedem gegen ſie bedienten? Nein, nein; einen ſo grauſamen Spott treibt der Schoͤ- pfer mit uns nicht. Wer daher in Beſtrei- tung aller Arten von Vorurtheilen niemals ſchuͤchtern, niemals laß zu werden wuͤnſchet, der beſiege ja dieſes Vorurtheil zuerſt, daß die Eindruͤcke unſrer Kindheit nicht zu vernichten waͤren. Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in unſrer Kindheit beige- bracht werden, ſind gerade die allerflachſten, die ſich am allerleichteſten durch ſelbſterwor-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/127>, abgerufen am 24.11.2024.