Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

45.

"Er sei ein Deutscher, ein Wahle, oder
was er will, gewesen; er war Einer von den
ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au-
gen, wie im Traum ihren Weg so fortschlen-
dern. Entweder weil sie nicht selbst denken
können, oder aus Kleinmuth nicht selbst den-
ken zu dörfen vermeinen, oder aus Gemäch-
lichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem,
was sie in ihrer Kindheit gelernt haben: und
glücklich gnug, wenn sie nur von andern nicht
verlangen, daß sie ihrem Beispiel hierinn fol-
gen sollen." *)

"Das Ding, das man Ketzer nennt, hat
eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der
mit seinen eignen Augen wenigstens sehen wol-
len. Die Frage ist nur, ob es gute Augen
gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen.
Ja in gewissen Jahrhunderten ist der Name
Ketzer die größte Empfehlung, die von einem

*) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.

45.

„Er ſei ein Deutſcher, ein Wahle, oder
was er will, geweſen; er war Einer von den
ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au-
gen, wie im Traum ihren Weg ſo fortſchlen-
dern. Entweder weil ſie nicht ſelbſt denken
koͤnnen, oder aus Kleinmuth nicht ſelbſt den-
ken zu doͤrfen vermeinen, oder aus Gemaͤch-
lichkeit nicht wollen, halten ſie feſt an dem,
was ſie in ihrer Kindheit gelernt haben: und
gluͤcklich gnug, wenn ſie nur von andern nicht
verlangen, daß ſie ihrem Beiſpiel hierinn fol-
gen ſollen.“ *)

„Das Ding, das man Ketzer nennt, hat
eine ſehr gute Seite. Es iſt ein Menſch, der
mit ſeinen eignen Augen wenigſtens ſehen wol-
len. Die Frage iſt nur, ob es gute Augen
geweſen, mit welchen er ſelbſt ſehen wollen.
Ja in gewiſſen Jahrhunderten iſt der Name
Ketzer die groͤßte Empfehlung, die von einem

*) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0124" n="117"/>
        <p>45.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Er &#x017F;ei ein Deut&#x017F;cher, ein Wahle, oder<lb/>
was er will, gewe&#x017F;en; er war Einer von den<lb/>
ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au-<lb/>
gen, wie im Traum ihren Weg &#x017F;o fort&#x017F;chlen-<lb/>
dern. Entweder weil &#x017F;ie nicht &#x017F;elb&#x017F;t denken<lb/>
ko&#x0364;nnen, oder aus Kleinmuth nicht &#x017F;elb&#x017F;t den-<lb/>
ken zu do&#x0364;rfen vermeinen, oder aus Gema&#x0364;ch-<lb/>
lichkeit nicht wollen, halten &#x017F;ie fe&#x017F;t an dem,<lb/>
was &#x017F;ie in ihrer Kindheit gelernt haben: und<lb/>
glu&#x0364;cklich gnug, wenn &#x017F;ie nur von andern nicht<lb/>
verlangen, daß &#x017F;ie ihrem Bei&#x017F;piel hierinn fol-<lb/>
gen &#x017F;ollen.&#x201C; <note place="foot" n="*)">Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.</note></p><lb/>
        <p>&#x201E;Das Ding, das man Ketzer nennt, hat<lb/>
eine &#x017F;ehr gute Seite. Es i&#x017F;t ein Men&#x017F;ch, der<lb/>
mit &#x017F;einen eignen Augen wenig&#x017F;tens &#x017F;ehen <hi rendition="#g">wol</hi>-<lb/><hi rendition="#g">len</hi>. Die Frage i&#x017F;t nur, ob es gute Augen<lb/>
gewe&#x017F;en, mit welchen er &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ehen wollen.<lb/>
Ja in gewi&#x017F;&#x017F;en Jahrhunderten i&#x017F;t der Name<lb/>
Ketzer die gro&#x0364;ßte Empfehlung, die von einem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0124] 45. „Er ſei ein Deutſcher, ein Wahle, oder was er will, geweſen; er war Einer von den ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au- gen, wie im Traum ihren Weg ſo fortſchlen- dern. Entweder weil ſie nicht ſelbſt denken koͤnnen, oder aus Kleinmuth nicht ſelbſt den- ken zu doͤrfen vermeinen, oder aus Gemaͤch- lichkeit nicht wollen, halten ſie feſt an dem, was ſie in ihrer Kindheit gelernt haben: und gluͤcklich gnug, wenn ſie nur von andern nicht verlangen, daß ſie ihrem Beiſpiel hierinn fol- gen ſollen.“ *) „Das Ding, das man Ketzer nennt, hat eine ſehr gute Seite. Es iſt ein Menſch, der mit ſeinen eignen Augen wenigſtens ſehen wol- len. Die Frage iſt nur, ob es gute Augen geweſen, mit welchen er ſelbſt ſehen wollen. Ja in gewiſſen Jahrhunderten iſt der Name Ketzer die groͤßte Empfehlung, die von einem *) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/124
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/124>, abgerufen am 24.11.2024.