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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

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Gedanken. Ohne diese ist das schönste
Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter.
Soll ich wählen, Gedanken ohne Form,
oder Form ohne Gedanken: so wähle ich
das Erste. Die Form kann meine Seele
ihnen leicht geben.

Und wären die Deutschen denn von
jeher so Formlos gewesen? Bei den Min-
nesingern finde ich dies nicht; bei Reineke
dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie-
der, Sprüche und Erzählungen haben eine
so gedrungene, oft so geistige Form, daß
es schwer seyn würde, ein Wort hinzuzu-
thun oder hinwegzunehmen. Opitzens
Manier ist freilich einförmig; Dank ihm
aber für diese Einförmigkeit, die zum Zweck
hatte, uns bei der Skansion der Syl-
benmaaße vestzuhalten. Hätte er sich wie
seine Vorgänger an der bloßen Decla-
mation gereimter Verse begnügt: so wäre

Gedanken. Ohne dieſe iſt das ſchoͤnſte
Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter.
Soll ich waͤhlen, Gedanken ohne Form,
oder Form ohne Gedanken: ſo waͤhle ich
das Erſte. Die Form kann meine Seele
ihnen leicht geben.

Und waͤren die Deutſchen denn von
jeher ſo Formlos geweſen? Bei den Min-
neſingern finde ich dies nicht; bei Reineke
dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie-
der, Spruͤche und Erzaͤhlungen haben eine
ſo gedrungene, oft ſo geiſtige Form, daß
es ſchwer ſeyn wuͤrde, ein Wort hinzuzu-
thun oder hinwegzunehmen. Opitzens
Manier iſt freilich einfoͤrmig; Dank ihm
aber fuͤr dieſe Einfoͤrmigkeit, die zum Zweck
hatte, uns bei der Skanſion der Syl-
benmaaße veſtzuhalten. Haͤtte er ſich wie
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[137/0156] Gedanken. Ohne dieſe iſt das ſchoͤnſte Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter. Soll ich waͤhlen, Gedanken ohne Form, oder Form ohne Gedanken: ſo waͤhle ich das Erſte. Die Form kann meine Seele ihnen leicht geben. Und waͤren die Deutſchen denn von jeher ſo Formlos geweſen? Bei den Min- neſingern finde ich dies nicht; bei Reineke dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie- der, Spruͤche und Erzaͤhlungen haben eine ſo gedrungene, oft ſo geiſtige Form, daß es ſchwer ſeyn wuͤrde, ein Wort hinzuzu- thun oder hinwegzunehmen. Opitzens Manier iſt freilich einfoͤrmig; Dank ihm aber fuͤr dieſe Einfoͤrmigkeit, die zum Zweck hatte, uns bei der Skanſion der Syl- benmaaße veſtzuhalten. Haͤtte er ſich wie ſeine Vorgaͤnger an der bloßen Decla- mation gereimter Verſe begnuͤgt: ſo waͤre

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/156>, abgerufen am 21.11.2024.