Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

mittleren Zeiten ist wie ein cyklisches
Gedicht
zu lesen.

Wenn aber und wie wird aus diesen
vermischten Sagen und Abentheuermähr-
chen so verschiedner Völker in so verschied-
nen Gegenden und Umständen ein Ilias,
eine Odyssee erwachsen, die Allem gleich-
sam den Kranz raubte, und jetzt als Sage
der Sagen gelte?

Dazu gehört viel; insonderheit aber
daß die Sprache und der Witz der Euro-
päischen Völker einigermaßen verfeinert
werde, daß Völker mit einander in Ver-
bindung oder in Wettkampf gerathen, da-
durch sie einander verstehen lernen, endlich
daß, wenns seyn kann, hier oder da ein
Homer aufkomme, dem alle horchen.
Aeußerst schwer und langsam konnte diese
Aufgabe aufgelöset werden, da Einestheils
die Völker durch Stammesvorurtheile und

mittleren Zeiten iſt wie ein cykliſches
Gedicht
zu leſen.

Wenn aber und wie wird aus dieſen
vermiſchten Sagen und Abentheuermaͤhr-
chen ſo verſchiedner Voͤlker in ſo verſchied-
nen Gegenden und Umſtaͤnden ein Ilias,
eine Odyſſee erwachſen, die Allem gleich-
ſam den Kranz raubte, und jetzt als Sage
der Sagen gelte?

Dazu gehoͤrt viel; inſonderheit aber
daß die Sprache und der Witz der Euro-
paͤiſchen Voͤlker einigermaßen verfeinert
werde, daß Voͤlker mit einander in Ver-
bindung oder in Wettkampf gerathen, da-
durch ſie einander verſtehen lernen, endlich
daß, wenns ſeyn kann, hier oder da ein
Homer aufkomme, dem alle horchen.
Aeußerſt ſchwer und langſam konnte dieſe
Aufgabe aufgeloͤſet werden, da Einestheils
die Voͤlker durch Stammesvorurtheile und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0089" n="72"/>
mittleren Zeiten i&#x017F;t wie ein <hi rendition="#g">cykli&#x017F;ches<lb/>
Gedicht</hi> zu le&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Wenn aber und wie wird aus die&#x017F;en<lb/>
vermi&#x017F;chten Sagen und Abentheuerma&#x0364;hr-<lb/>
chen &#x017F;o ver&#x017F;chiedner Vo&#x0364;lker in &#x017F;o ver&#x017F;chied-<lb/>
nen Gegenden und Um&#x017F;ta&#x0364;nden ein Ilias,<lb/>
eine Ody&#x017F;&#x017F;ee erwach&#x017F;en, die Allem gleich-<lb/>
&#x017F;am den Kranz raubte, und jetzt als Sage<lb/>
der Sagen gelte?</p><lb/>
        <p>Dazu geho&#x0364;rt viel; in&#x017F;onderheit aber<lb/>
daß die Sprache und der Witz der Euro-<lb/>
pa&#x0364;i&#x017F;chen Vo&#x0364;lker einigermaßen verfeinert<lb/>
werde, daß Vo&#x0364;lker mit einander in Ver-<lb/>
bindung oder in Wettkampf gerathen, da-<lb/>
durch &#x017F;ie einander ver&#x017F;tehen lernen, endlich<lb/>
daß, wenns &#x017F;eyn kann, hier oder da ein<lb/><hi rendition="#g">Homer</hi> aufkomme, dem alle horchen.<lb/>
Aeußer&#x017F;t &#x017F;chwer und lang&#x017F;am konnte die&#x017F;e<lb/>
Aufgabe aufgelo&#x0364;&#x017F;et werden, da Einestheils<lb/>
die Vo&#x0364;lker durch Stammesvorurtheile und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0089] mittleren Zeiten iſt wie ein cykliſches Gedicht zu leſen. Wenn aber und wie wird aus dieſen vermiſchten Sagen und Abentheuermaͤhr- chen ſo verſchiedner Voͤlker in ſo verſchied- nen Gegenden und Umſtaͤnden ein Ilias, eine Odyſſee erwachſen, die Allem gleich- ſam den Kranz raubte, und jetzt als Sage der Sagen gelte? Dazu gehoͤrt viel; inſonderheit aber daß die Sprache und der Witz der Euro- paͤiſchen Voͤlker einigermaßen verfeinert werde, daß Voͤlker mit einander in Ver- bindung oder in Wettkampf gerathen, da- durch ſie einander verſtehen lernen, endlich daß, wenns ſeyn kann, hier oder da ein Homer aufkomme, dem alle horchen. Aeußerſt ſchwer und langſam konnte dieſe Aufgabe aufgeloͤſet werden, da Einestheils die Voͤlker durch Stammesvorurtheile und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/89
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/89>, abgerufen am 24.11.2024.