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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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ertönet. In eingepflanzten Trieben, in an-
gebohrnen Begriffen und Neigungen ging
diese Liebe zum Abentheuer auf Geschlech-
ter hinab; der geistliche Stand, in dessen
Händen die Bildung der Menschen nach
Begriffen der Zeit war, bemächtigte sich
dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzählte.
Von Erzählungen fängt alle Cultur roher
Völker an; sie lesen nicht, sie vernünfteln
nicht gern, aber sie hören und lassen sich
erzählen. So Kinder, so alle Stände, die
insonderheit unter freiem Himmel ein halb-
müßiges Leben führen. Wo sie auch leben,
Norweger und Araber, Perser und Mogo-
len, der Gothe, Sachse, Frank und Katte
des Mittelalters, noch jetzt alle halbmüs-
sige Abentheurer, Krieger, Jäger, Reisen-
de, Pilger haben hierinn Einerlei Geschmack,
Einerlei Zeitkürzung. Unwissenheit ist die
Mutter des Wunderbaren, unternehmende

ertoͤnet. In eingepflanzten Trieben, in an-
gebohrnen Begriffen und Neigungen ging
dieſe Liebe zum Abentheuer auf Geſchlech-
ter hinab; der geiſtliche Stand, in deſſen
Haͤnden die Bildung der Menſchen nach
Begriffen der Zeit war, bemaͤchtigte ſich
dieſes Triebes; er fabelte, dichtete, erzaͤhlte.
Von Erzaͤhlungen faͤngt alle Cultur roher
Voͤlker an; ſie leſen nicht, ſie vernuͤnfteln
nicht gern, aber ſie hoͤren und laſſen ſich
erzaͤhlen. So Kinder, ſo alle Staͤnde, die
inſonderheit unter freiem Himmel ein halb-
muͤßiges Leben fuͤhren. Wo ſie auch leben,
Norweger und Araber, Perſer und Mogo-
len, der Gothe, Sachſe, Frank und Katte
des Mittelalters, noch jetzt alle halbmuͤſ-
ſige Abentheurer, Krieger, Jaͤger, Reiſen-
de, Pilger haben hierinn Einerlei Geſchmack,
Einerlei Zeitkuͤrzung. Unwiſſenheit iſt die
Mutter des Wunderbaren, unternehmende

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[70/0087] ertoͤnet. In eingepflanzten Trieben, in an- gebohrnen Begriffen und Neigungen ging dieſe Liebe zum Abentheuer auf Geſchlech- ter hinab; der geiſtliche Stand, in deſſen Haͤnden die Bildung der Menſchen nach Begriffen der Zeit war, bemaͤchtigte ſich dieſes Triebes; er fabelte, dichtete, erzaͤhlte. Von Erzaͤhlungen faͤngt alle Cultur roher Voͤlker an; ſie leſen nicht, ſie vernuͤnfteln nicht gern, aber ſie hoͤren und laſſen ſich erzaͤhlen. So Kinder, ſo alle Staͤnde, die inſonderheit unter freiem Himmel ein halb- muͤßiges Leben fuͤhren. Wo ſie auch leben, Norweger und Araber, Perſer und Mogo- len, der Gothe, Sachſe, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halbmuͤſ- ſige Abentheurer, Krieger, Jaͤger, Reiſen- de, Pilger haben hierinn Einerlei Geſchmack, Einerlei Zeitkuͤrzung. Unwiſſenheit iſt die Mutter des Wunderbaren, unternehmende

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/87>, abgerufen am 08.05.2024.