Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.Fackel des Lebens. Das Auge ist, wenn Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch Fackel des Lebens. Das Auge iſt, wenn Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0074" n="57"/> Fackel des Lebens. Das Auge iſt, wenn<lb/> man will, der kaͤlteſte, der aͤußerlichſte und<lb/> oberflaͤchlichſte Sinn unter allen; er iſt aber<lb/> auch der ſchnellſte, der umfaſſendſte, der<lb/> helleſte Sinn; er umſchreibt, theilt, bezirkt<lb/> und uͤbt die Meßkunſt fuͤr alle ſeine Bruͤ-<lb/> der. Das Ohr dagegen iſt ein zwar tief-<lb/> dringender, maͤchtigerſchuͤtternder, aber<lb/> auch ein ſehr aberglaͤubiger Sinn. In<lb/> ſeinen Schwingungen iſt etwas Unabzaͤhl-<lb/> bares, Unermaͤßliches, das die Seele in<lb/> eine ſuͤße Verruͤckung ſetzt, in welcher ſie<lb/> kein Ende findet. Behuͤte uns alſo die<lb/> Muſe vor einer bloßen <hi rendition="#g">Poeſie des Ohrs</hi><lb/> ohne Berichtigung der Geſtalten und ihres<lb/> Maaßes <hi rendition="#g">durchs Auge</hi>.</p><lb/> <p>Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch<lb/> und frage: „wie wenn aus dieſer heilgen<lb/> Moͤnchspoeſie eine Volksdichtung hervorge-<lb/> hen ſollte, wie wird ſie werden? Gewiß<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [57/0074]
Fackel des Lebens. Das Auge iſt, wenn
man will, der kaͤlteſte, der aͤußerlichſte und
oberflaͤchlichſte Sinn unter allen; er iſt aber
auch der ſchnellſte, der umfaſſendſte, der
helleſte Sinn; er umſchreibt, theilt, bezirkt
und uͤbt die Meßkunſt fuͤr alle ſeine Bruͤ-
der. Das Ohr dagegen iſt ein zwar tief-
dringender, maͤchtigerſchuͤtternder, aber
auch ein ſehr aberglaͤubiger Sinn. In
ſeinen Schwingungen iſt etwas Unabzaͤhl-
bares, Unermaͤßliches, das die Seele in
eine ſuͤße Verruͤckung ſetzt, in welcher ſie
kein Ende findet. Behuͤte uns alſo die
Muſe vor einer bloßen Poeſie des Ohrs
ohne Berichtigung der Geſtalten und ihres
Maaßes durchs Auge.
Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch
und frage: „wie wenn aus dieſer heilgen
Moͤnchspoeſie eine Volksdichtung hervorge-
hen ſollte, wie wird ſie werden? Gewiß
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