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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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wenige Knoten ist alle unser Interesse ge-
knüpfet.

In dieser Rücksicht nun kann man
freilich die Geschichte der Dichtkunst d. i.
die Geschichte menschlicher Einbil-
dungen und Wünsche, und wenn ich
so sagen darf, des süßen Wahns der
Menschheit
, der aufs feurigste aus-
gedruckten Leidenschaften und Em-
pfindungen unsres Geschlechts nicht
allgemein und im Großen gnug neh-
men. Wie ganzen Nationen Eine Spra-
che eigen ist, so sind ihnen auch gewisse
Lieblingsgänge der Phantasie, Wendungen
und Objecte der Gedanken, kurz ein Ge-
nius eigen, der sich, unbeschadet jeder
einzelnen Verschiedenheit, in den beliebte-
sten Werken ihres Geistes und Herzens
ausdruckt. Sie in diesem angenehmen Irr-
garten zu belauschen, den Proteus zu fes-

wenige Knoten iſt alle unſer Intereſſe ge-
knuͤpfet.

In dieſer Ruͤckſicht nun kann man
freilich die Geſchichte der Dichtkunſt d. i.
die Geſchichte menſchlicher Einbil-
dungen und Wuͤnſche, und wenn ich
ſo ſagen darf, des ſuͤßen Wahns der
Menſchheit
, der aufs feurigſte aus-
gedruckten Leidenſchaften und Em-
pfindungen unſres Geſchlechts nicht
allgemein und im Großen gnug neh-
men. Wie ganzen Nationen Eine Spra-
che eigen iſt, ſo ſind ihnen auch gewiſſe
Lieblingsgaͤnge der Phantaſie, Wendungen
und Objecte der Gedanken, kurz ein Ge-
nius eigen, der ſich, unbeſchadet jeder
einzelnen Verſchiedenheit, in den beliebte-
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[139/0156] wenige Knoten iſt alle unſer Intereſſe ge- knuͤpfet. In dieſer Ruͤckſicht nun kann man freilich die Geſchichte der Dichtkunſt d. i. die Geſchichte menſchlicher Einbil- dungen und Wuͤnſche, und wenn ich ſo ſagen darf, des ſuͤßen Wahns der Menſchheit, der aufs feurigſte aus- gedruckten Leidenſchaften und Em- pfindungen unſres Geſchlechts nicht allgemein und im Großen gnug neh- men. Wie ganzen Nationen Eine Spra- che eigen iſt, ſo ſind ihnen auch gewiſſe Lieblingsgaͤnge der Phantaſie, Wendungen und Objecte der Gedanken, kurz ein Ge- nius eigen, der ſich, unbeſchadet jeder einzelnen Verſchiedenheit, in den beliebte- ſten Werken ihres Geiſtes und Herzens ausdruckt. Sie in dieſem angenehmen Irr- garten zu belauſchen, den Proteus zu feſ-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/156>, abgerufen am 21.11.2024.