Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

wie wenig denket, ja wie wenig kennet
der sie oft, der sie am wortreichsten cha-
rakterisiret!

Wenn ich meinen Dante und Pe-
trarca, Ariosto und Cervantes las,
und Jeden dieser Dichter, wie meinen
Freund und Lehrer von Innen aus kennen
lernen wollte: so war es mir angenehm,
ihn als einen Einzigen zu betrachten.
Zu diesem Zweck suchte ich Alles auf, was
in ihm liegt, was rings um ihn zu seiner
Bildung oder Misbildung beigetragen. Die
ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver-
schwand vor meinen Augen; ich sahe nur
ihn. Und doch wurde ich bald an die
ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor
ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte
gelernt und lehrte; er folgte andern, andre
ihm nach. Das Band der Sprache, der
Denkart, der Leidenschaften, des Inhalts

wie wenig denket, ja wie wenig kennet
der ſie oft, der ſie am wortreichſten cha-
rakteriſiret!

Wenn ich meinen Dante und Pe-
trarca, Arioſto und Cervantes las,
und Jeden dieſer Dichter, wie meinen
Freund und Lehrer von Innen aus kennen
lernen wollte: ſo war es mir angenehm,
ihn als einen Einzigen zu betrachten.
Zu dieſem Zweck ſuchte ich Alles auf, was
in ihm liegt, was rings um ihn zu ſeiner
Bildung oder Misbildung beigetragen. Die
ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver-
ſchwand vor meinen Augen; ich ſahe nur
ihn. Und doch wurde ich bald an die
ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor
ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte
gelernt und lehrte; er folgte andern, andre
ihm nach. Das Band der Sprache, der
Denkart, der Leidenſchaften, des Inhalts

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0153" n="136"/>
wie wenig denket, ja wie wenig kennet<lb/>
der &#x017F;ie oft, der &#x017F;ie am wortreich&#x017F;ten cha-<lb/>
rakteri&#x017F;iret!</p><lb/>
        <p>Wenn ich meinen <hi rendition="#g">Dante</hi> und <hi rendition="#g">Pe</hi>-<lb/><hi rendition="#g">trarca</hi>, <hi rendition="#g">Ario&#x017F;to</hi> und <hi rendition="#g">Cervantes</hi> las,<lb/>
und Jeden die&#x017F;er Dichter, wie meinen<lb/>
Freund und Lehrer von Innen aus kennen<lb/>
lernen wollte: &#x017F;o war es mir angenehm,<lb/>
ihn als einen <hi rendition="#g">Einzigen</hi> zu betrachten.<lb/>
Zu die&#x017F;em Zweck &#x017F;uchte ich Alles auf, was<lb/>
in ihm liegt, was rings um ihn zu &#x017F;einer<lb/>
Bildung oder Misbildung beigetragen. Die<lb/>
ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver-<lb/>
&#x017F;chwand vor meinen Augen; ich &#x017F;ahe nur<lb/>
ihn. Und doch wurde ich bald an die<lb/>
ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor<lb/>
ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte<lb/>
gelernt und lehrte; er folgte andern, andre<lb/>
ihm nach. Das Band der Sprache, der<lb/>
Denkart, der Leiden&#x017F;chaften, des Inhalts<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0153] wie wenig denket, ja wie wenig kennet der ſie oft, der ſie am wortreichſten cha- rakteriſiret! Wenn ich meinen Dante und Pe- trarca, Arioſto und Cervantes las, und Jeden dieſer Dichter, wie meinen Freund und Lehrer von Innen aus kennen lernen wollte: ſo war es mir angenehm, ihn als einen Einzigen zu betrachten. Zu dieſem Zweck ſuchte ich Alles auf, was in ihm liegt, was rings um ihn zu ſeiner Bildung oder Misbildung beigetragen. Die ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver- ſchwand vor meinen Augen; ich ſahe nur ihn. Und doch wurde ich bald an die ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte gelernt und lehrte; er folgte andern, andre ihm nach. Das Band der Sprache, der Denkart, der Leidenſchaften, des Inhalts

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/153
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/153>, abgerufen am 21.11.2024.