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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795.

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mend, kein Klima zum Aufkommen, ge-
schweige einen Olymp zur Gottesgestalt
findet, und tappen also fort im Nebel.
Wenn aber die liebliche Scham, die See-
len verhüllte Vestale oder Dianens keusche
Tochter keinen Olymp verdienen, geniessen
sie nicht eines häuslichen Altars?

Eine reine Kritik dieser der erlesensten
Menschenformen, die man Götterge-
stalten nennt, prüft und sichert unser Ur-
theil auch für alle sittlichen Composi-
tionen. Von wie manchem Nebenbegriff
bin ich frei geworden, wie manche Mei-
nung habe ich vergessen lernen, seitdem die
Kunst der Griechen, gestützt auf ihre Weis-
heit und Sittenlehre, meine Führerin ward.
Demüthig wie ein Fragender zu Delphi,
frage ich mich: hat diese Composition, hat
dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth?
haben sie einen sittlichen Charakter?

mend, kein Klima zum Aufkommen, ge-
ſchweige einen Olymp zur Gottesgeſtalt
findet, und tappen alſo fort im Nebel.
Wenn aber die liebliche Scham, die See-
len verhuͤllte Veſtale oder Dianens keuſche
Tochter keinen Olymp verdienen, genieſſen
ſie nicht eines haͤuslichen Altars?

Eine reine Kritik dieſer der erleſenſten
Menſchenformen, die man Goͤtterge-
ſtalten nennt, pruͤft und ſichert unſer Ur-
theil auch fuͤr alle ſittlichen Compoſi-
tionen. Von wie manchem Nebenbegriff
bin ich frei geworden, wie manche Mei-
nung habe ich vergeſſen lernen, ſeitdem die
Kunſt der Griechen, geſtuͤtzt auf ihre Weis-
heit und Sittenlehre, meine Fuͤhrerin ward.
Demuͤthig wie ein Fragender zu Delphi,
frage ich mich: hat dieſe Compoſition, hat
dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth?
haben ſie einen ſittlichen Charakter?

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[45/0060] mend, kein Klima zum Aufkommen, ge- ſchweige einen Olymp zur Gottesgeſtalt findet, und tappen alſo fort im Nebel. Wenn aber die liebliche Scham, die See- len verhuͤllte Veſtale oder Dianens keuſche Tochter keinen Olymp verdienen, genieſſen ſie nicht eines haͤuslichen Altars? Eine reine Kritik dieſer der erleſenſten Menſchenformen, die man Goͤtterge- ſtalten nennt, pruͤft und ſichert unſer Ur- theil auch fuͤr alle ſittlichen Compoſi- tionen. Von wie manchem Nebenbegriff bin ich frei geworden, wie manche Mei- nung habe ich vergeſſen lernen, ſeitdem die Kunſt der Griechen, geſtuͤtzt auf ihre Weis- heit und Sittenlehre, meine Fuͤhrerin ward. Demuͤthig wie ein Fragender zu Delphi, frage ich mich: hat dieſe Compoſition, hat dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth? haben ſie einen ſittlichen Charakter?

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/60>, abgerufen am 24.11.2024.