Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

neuern Philosophen gefunden worden und
im philosophischen Schrank aufbewahrt
ständen? Eine einzige, antwortet der Ver-
fasser, von meinem Freunde Kant, diese:
daß wir noch keine Philosophie, keine rei-
ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie-
sen hat, und die Sokrates vor ihm,
ohne Beweis, so ausdrückte: wir wissen
nichts. Durch schwelgerische Spekulatio-
nen über übersinnliche Dinge abgeleitet,
liessen wir das uns zum Bearbeiten ange-
wiesene Feld mit dem eingestreueten Sa-
men in uns verwachsen daliegen. Nach-
dem der Schutt des angemaaßten Wis-
sens, wodurch die Vernunft mit sich selbst
in Widerspruch kam, vom Herzen geräumt
ward, konnte dasselbe für das Sittlichgute
freischlagen."

"Wir erfahren nämlich durch unsern
innern Sinn die unbedingte Foderung:

neuern Philoſophen gefunden worden und
im philoſophiſchen Schrank aufbewahrt
ſtaͤnden? Eine einzige, antwortet der Ver-
faſſer, von meinem Freunde Kant, dieſe:
daß wir noch keine Philoſophie, keine rei-
ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie-
ſen hat, und die Sokrates vor ihm,
ohne Beweis, ſo ausdruͤckte: wir wiſſen
nichts. Durch ſchwelgeriſche Spekulatio-
nen uͤber uͤberſinnliche Dinge abgeleitet,
lieſſen wir das uns zum Bearbeiten ange-
wieſene Feld mit dem eingeſtreueten Sa-
men in uns verwachſen daliegen. Nach-
dem der Schutt des angemaaßten Wiſ-
ſens, wodurch die Vernunft mit ſich ſelbſt
in Widerſpruch kam, vom Herzen geraͤumt
ward, konnte daſſelbe fuͤr das Sittlichgute
freiſchlagen.“

„Wir erfahren naͤmlich durch unſern
innern Sinn die unbedingte Foderung:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0185" n="170"/>
neuern Philo&#x017F;ophen gefunden worden und<lb/>
im philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Schrank aufbewahrt<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden? Eine einzige, antwortet der Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;er, von meinem Freunde <hi rendition="#g">Kant</hi>, die&#x017F;e:<lb/>
daß wir noch keine Philo&#x017F;ophie, keine rei-<lb/>
ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie-<lb/>
&#x017F;en hat, und die <hi rendition="#g">Sokrates</hi> vor ihm,<lb/>
ohne Beweis, &#x017F;o ausdru&#x0364;ckte: wir wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
nichts. Durch &#x017F;chwelgeri&#x017F;che Spekulatio-<lb/>
nen u&#x0364;ber u&#x0364;ber&#x017F;innliche Dinge abgeleitet,<lb/>
lie&#x017F;&#x017F;en wir das uns zum Bearbeiten ange-<lb/>
wie&#x017F;ene Feld mit dem einge&#x017F;treueten Sa-<lb/>
men in uns verwach&#x017F;en daliegen. Nach-<lb/>
dem der Schutt des angemaaßten Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ens, wodurch die Vernunft mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
in Wider&#x017F;pruch kam, vom Herzen gera&#x0364;umt<lb/>
ward, konnte da&#x017F;&#x017F;elbe fu&#x0364;r das Sittlichgute<lb/>
frei&#x017F;chlagen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wir erfahren na&#x0364;mlich durch un&#x017F;ern<lb/>
innern Sinn die unbedingte Foderung:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0185] neuern Philoſophen gefunden worden und im philoſophiſchen Schrank aufbewahrt ſtaͤnden? Eine einzige, antwortet der Ver- faſſer, von meinem Freunde Kant, dieſe: daß wir noch keine Philoſophie, keine rei- ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie- ſen hat, und die Sokrates vor ihm, ohne Beweis, ſo ausdruͤckte: wir wiſſen nichts. Durch ſchwelgeriſche Spekulatio- nen uͤber uͤberſinnliche Dinge abgeleitet, lieſſen wir das uns zum Bearbeiten ange- wieſene Feld mit dem eingeſtreueten Sa- men in uns verwachſen daliegen. Nach- dem der Schutt des angemaaßten Wiſ- ſens, wodurch die Vernunft mit ſich ſelbſt in Widerſpruch kam, vom Herzen geraͤumt ward, konnte daſſelbe fuͤr das Sittlichgute freiſchlagen.“ „Wir erfahren naͤmlich durch unſern innern Sinn die unbedingte Foderung:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/185
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/185>, abgerufen am 24.11.2024.