Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht
gern zuerst unschuldig mitwähnen, bald
mächtig glauben und auf andre mit eben
der Bestrebsamkeit seinen Glauben fort-
pflanzen? Durch guten Glauben hängt
das Menschen-Geschlecht an einander;
durch ihn haben wir wo nicht alles so doch
das Nützlichste und Meiste gelernt; und ein
Wähnender, sagt man, ist deßhalb ja noch
kein Betrüger. Der Wahn, eben weil er
Wahn ist, gefällt sich sogern in Gesellschaft;
in ihr erquicket er sich, da er für sich selbst
ohne Grund und Gewißheit wäre; zu die-
sem Zweck ist ihm auch die schlechteste Ge-
sellschaft die beste.

Nationalwahn ist ein furchtbarer
Name. Was in einer Nation einmal Wur-
zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet
und hochhält; wie sollte das nicht Wahr-
heit seyn? wer würde daran nur zweifeln?

wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht
gern zuerſt unſchuldig mitwaͤhnen, bald
maͤchtig glauben und auf andre mit eben
der Beſtrebſamkeit ſeinen Glauben fort-
pflanzen? Durch guten Glauben haͤngt
das Menſchen-Geſchlecht an einander;
durch ihn haben wir wo nicht alles ſo doch
das Nuͤtzlichſte und Meiſte gelernt; und ein
Waͤhnender, ſagt man, iſt deßhalb ja noch
kein Betruͤger. Der Wahn, eben weil er
Wahn iſt, gefaͤllt ſich ſogern in Geſellſchaft;
in ihr erquicket er ſich, da er fuͤr ſich ſelbſt
ohne Grund und Gewißheit waͤre; zu die-
ſem Zweck iſt ihm auch die ſchlechteſte Ge-
ſellſchaft die beſte.

Nationalwahn iſt ein furchtbarer
Name. Was in einer Nation einmal Wur-
zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet
und hochhaͤlt; wie ſollte das nicht Wahr-
heit ſeyn? wer wuͤrde daran nur zweifeln?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0095" n="90"/>
wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht<lb/>
gern zuer&#x017F;t un&#x017F;chuldig mitwa&#x0364;hnen, bald<lb/>
ma&#x0364;chtig glauben und auf andre mit eben<lb/>
der Be&#x017F;treb&#x017F;amkeit &#x017F;einen Glauben fort-<lb/>
pflanzen? Durch guten Glauben ha&#x0364;ngt<lb/>
das Men&#x017F;chen-Ge&#x017F;chlecht an einander;<lb/>
durch ihn haben wir wo nicht alles &#x017F;o doch<lb/>
das Nu&#x0364;tzlich&#x017F;te und Mei&#x017F;te gelernt; und ein<lb/>
Wa&#x0364;hnender, &#x017F;agt man, i&#x017F;t deßhalb ja noch<lb/>
kein Betru&#x0364;ger. Der Wahn, eben weil er<lb/>
Wahn i&#x017F;t, gefa&#x0364;llt &#x017F;ich &#x017F;ogern in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft;<lb/>
in ihr erquicket er &#x017F;ich, da er fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
ohne Grund und Gewißheit wa&#x0364;re; zu die-<lb/>
&#x017F;em Zweck i&#x017F;t ihm auch die &#x017F;chlechte&#x017F;te Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft die be&#x017F;te.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Nationalwahn</hi> i&#x017F;t ein furchtbarer<lb/>
Name. Was in einer Nation einmal Wur-<lb/>
zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet<lb/>
und hochha&#x0364;lt; wie &#x017F;ollte das nicht Wahr-<lb/>
heit &#x017F;eyn? wer wu&#x0364;rde daran nur zweifeln?<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0095] wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerſt unſchuldig mitwaͤhnen, bald maͤchtig glauben und auf andre mit eben der Beſtrebſamkeit ſeinen Glauben fort- pflanzen? Durch guten Glauben haͤngt das Menſchen-Geſchlecht an einander; durch ihn haben wir wo nicht alles ſo doch das Nuͤtzlichſte und Meiſte gelernt; und ein Waͤhnender, ſagt man, iſt deßhalb ja noch kein Betruͤger. Der Wahn, eben weil er Wahn iſt, gefaͤllt ſich ſogern in Geſellſchaft; in ihr erquicket er ſich, da er fuͤr ſich ſelbſt ohne Grund und Gewißheit waͤre; zu die- ſem Zweck iſt ihm auch die ſchlechteſte Ge- ſellſchaft die beſte. Nationalwahn iſt ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wur- zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhaͤlt; wie ſollte das nicht Wahr- heit ſeyn? wer wuͤrde daran nur zweifeln?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/95
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/95>, abgerufen am 04.05.2024.