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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794.

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sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie
gewöhnlich andern aufzwingen wollten, und
damit oft zum Ziele kamen.

Denn leider ist bekannt, daß es fast
nichts ansteckenderes in der Welt als Wahn
und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß
man durch Gründe mühsam erforschen;
den Wahn nimmt man durch Nachahmung,
oft unvermerkt, aus Gefälligkeit, durch das
bloße Zusammenseyn mit dem Wähnenden,
durch Theilnehmung an seinen übrigen gu-
ten Gesinnungen, auf guten Glauben an.
Wahn theilt sich mit, wie sich das Gäh-
nen mittheilt, wie Gesichtszüge und Stim-
mungen in uns übergehen, wie Eine Saite
der andern harmonisch antwortet. Kommt
nun noch die Bestrebsamkeit des Wähnen-
den dazu, uns die Lieblingsmeinungen sei-
ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen,
und er weiß sich dabei recht zu nehmen;

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ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie
gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und
damit oft zum Ziele kamen.

Denn leider iſt bekannt, daß es faſt
nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn
und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß
man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen;
den Wahn nimmt man durch Nachahmung,
oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das
bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden,
durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu-
ten Geſinnungen, auf guten Glauben an.
Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh-
nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim-
mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite
der andern harmoniſch antwortet. Kommt
nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen-
den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei-
ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen,
und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;

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[89/0094] ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und damit oft zum Ziele kamen. Denn leider iſt bekannt, daß es faſt nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden, durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu- ten Geſinnungen, auf guten Glauben an. Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh- nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim- mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite der andern harmoniſch antwortet. Kommt nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen- den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei- ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß ſich dabei recht zu nehmen; F 5

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/94>, abgerufen am 04.05.2024.