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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794.

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die im Gehirn dergestalt durch einander
laufen, daß sie das Messer des Zergliede-
rers nicht mehr verfolgen kann. Eben so
fein und vielleicht noch feiner laufen in der
menschlichen Seele die Linien des Wah-
nes und der Wahrheit durch einander,
daß man nach der sorgfältigsten Prüfung
kaum an sich selbst weiß, wo Eins sich vom
Andern scheide.

Wenn alles das Wahn ist, was wir
ohne deutliche Gründe auf guten Glauben
annehmen: so ist der größeste Theil unsrer
Erfahrungen, unsre frühgelernte Kenntnisse,
unsre früherworbne Gewohnheiten, und
Neigungen auf Wahn gegründet. Sie be-
ruhen entweder auf dem Zeugniß unsrer
Sinne, oder anderer Menschen, denen wir
glauben, die wir unvermerkt, uns selbst un-
bewußt, nachahmen, endlich am meisten auf
unsrer eignen Bequemlichkeit und Disposi-

Vierte Samml. F

die im Gehirn dergeſtalt durch einander
laufen, daß ſie das Meſſer des Zergliede-
rers nicht mehr verfolgen kann. Eben ſo
fein und vielleicht noch feiner laufen in der
menſchlichen Seele die Linien des Wah-
nes und der Wahrheit durch einander,
daß man nach der ſorgfaͤltigſten Pruͤfung
kaum an ſich ſelbſt weiß, wo Eins ſich vom
Andern ſcheide.

Wenn alles das Wahn iſt, was wir
ohne deutliche Gruͤnde auf guten Glauben
annehmen: ſo iſt der groͤßeſte Theil unſrer
Erfahrungen, unſre fruͤhgelernte Kenntniſſe,
unſre fruͤherworbne Gewohnheiten, und
Neigungen auf Wahn gegruͤndet. Sie be-
ruhen entweder auf dem Zeugniß unſrer
Sinne, oder anderer Menſchen, denen wir
glauben, die wir unvermerkt, uns ſelbſt un-
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unſrer eignen Bequemlichkeit und Diſpoſi-

Vierte Samml. F
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[81/0086] die im Gehirn dergeſtalt durch einander laufen, daß ſie das Meſſer des Zergliede- rers nicht mehr verfolgen kann. Eben ſo fein und vielleicht noch feiner laufen in der menſchlichen Seele die Linien des Wah- nes und der Wahrheit durch einander, daß man nach der ſorgfaͤltigſten Pruͤfung kaum an ſich ſelbſt weiß, wo Eins ſich vom Andern ſcheide. Wenn alles das Wahn iſt, was wir ohne deutliche Gruͤnde auf guten Glauben annehmen: ſo iſt der groͤßeſte Theil unſrer Erfahrungen, unſre fruͤhgelernte Kenntniſſe, unſre fruͤherworbne Gewohnheiten, und Neigungen auf Wahn gegruͤndet. Sie be- ruhen entweder auf dem Zeugniß unſrer Sinne, oder anderer Menſchen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns ſelbſt un- bewußt, nachahmen, endlich am meiſten auf unſrer eignen Bequemlichkeit und Diſpoſi- Vierte Samml. F

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/86>, abgerufen am 23.11.2024.