Gegenstande der Moral macht, wenn er an sich und an seine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das schärf- ste Richtmaas leget, und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenstolz, den Wahn und Dünkel von uns lieber fortlächelt als fortgeisselt, wenn er an sich und andern zeigt, daß man nicht im Aether hoher Maximen schweben, sondern auf der Erde bleiben und täglich in Kleinigkeiten auf seiner Hut seyn müsse, um nicht mit der Zeit ein Unmensch zu werden; wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit seine zarten Sittengemälde der Nach- welt werth würden, auf sie als auf wirk- liche Kunstwerke gewandt hat? Diese Kunst- werke sind nicht nur lebendig, sondern auch belebend; ihr moralischer Geist geht in uns über; wir lernen an ihnen nicht dichten, sondern denken und handeln.
Gegenſtande der Moral macht, wenn er an ſich und an ſeine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das ſchaͤrf- ſte Richtmaas leget, und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenſtolz, den Wahn und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als fortgeiſſelt, wenn er an ſich und andern zeigt, daß man nicht im Aether hoher Maximen ſchweben, ſondern auf der Erde bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf ſeiner Hut ſeyn muͤſſe, um nicht mit der Zeit ein Unmenſch zu werden; wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit ſeine zarten Sittengemaͤlde der Nach- welt werth wuͤrden, auf ſie als auf wirk- liche Kunſtwerke gewandt hat? Dieſe Kunſt- werke ſind nicht nur lebendig, ſondern auch belebend; ihr moraliſcher Geiſt geht in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht dichten, ſondern denken und handeln.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0146"n="141"/>
Gegenſtande der Moral macht, wenn er an<lb/>ſich und an ſeine Freunde im Ton der<lb/>
Vertraulichkeit mit leichter Hand das ſchaͤrf-<lb/>ſte Richtmaas leget, und die Heuchelei, den<lb/>
Aberglauben, den Sittenſtolz, den Wahn<lb/>
und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als<lb/>
fortgeiſſelt, wenn er an ſich und andern<lb/>
zeigt, daß man nicht im Aether hoher<lb/>
Maximen ſchweben, ſondern auf der Erde<lb/>
bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf<lb/>ſeiner Hut ſeyn muͤſſe, um nicht mit der<lb/>
Zeit ein Unmenſch zu werden; wer kann<lb/>
dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er,<lb/>
damit ſeine zarten Sittengemaͤlde der Nach-<lb/>
welt werth wuͤrden, auf ſie als auf wirk-<lb/>
liche Kunſtwerke gewandt hat? Dieſe Kunſt-<lb/>
werke ſind nicht nur lebendig, ſondern<lb/>
auch belebend; ihr moraliſcher Geiſt geht<lb/>
in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht<lb/>
dichten, ſondern denken und handeln.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[141/0146]
Gegenſtande der Moral macht, wenn er an
ſich und an ſeine Freunde im Ton der
Vertraulichkeit mit leichter Hand das ſchaͤrf-
ſte Richtmaas leget, und die Heuchelei, den
Aberglauben, den Sittenſtolz, den Wahn
und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als
fortgeiſſelt, wenn er an ſich und andern
zeigt, daß man nicht im Aether hoher
Maximen ſchweben, ſondern auf der Erde
bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf
ſeiner Hut ſeyn muͤſſe, um nicht mit der
Zeit ein Unmenſch zu werden; wer kann
dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er,
damit ſeine zarten Sittengemaͤlde der Nach-
welt werth wuͤrden, auf ſie als auf wirk-
liche Kunſtwerke gewandt hat? Dieſe Kunſt-
werke ſind nicht nur lebendig, ſondern
auch belebend; ihr moraliſcher Geiſt geht
in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht
dichten, ſondern denken und handeln.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/146>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.