Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist vielleicht das höchste Verdienst
der Poesie, insonderheit des Drama, Stände
und Charaktere aller Art (wenn mir das
niedrige Gleichniß erlaubt ist) an dem fein-
sten Spieß, aufs langsamste am Feuer eig-
ner Thorheiten, Neigungen und Leiden-
schaften umzuwenden. In der Seele des
Zuschauers werden diese Stände und Cha-
raktere dadurch gahr, oder, mit einem
edleren Ausdruck, geründet. Man sie-
het, was an der Figur Ernst oder Scherz,
Wort oder That ist; man blickt auf den
Grund hinunter, und greift das Bestän-
dige oder Unstatthafte ihres Charakters,
ihre Versatilität und innere Ehrlichkeit
gleichsam mit Händen.

Die alte Tragödie ging darauf hinaus,
durch Darstellung unerwartet-schrecklicher
Königsunfälle und Katastrophen die Ur-
theile der Menschen zu berichtigen, ihre

Es iſt vielleicht das hoͤchſte Verdienſt
der Poeſie, inſonderheit des Drama, Staͤnde
und Charaktere aller Art (wenn mir das
niedrige Gleichniß erlaubt iſt) an dem fein-
ſten Spieß, aufs langſamſte am Feuer eig-
ner Thorheiten, Neigungen und Leiden-
ſchaften umzuwenden. In der Seele des
Zuſchauers werden dieſe Staͤnde und Cha-
raktere dadurch gahr, oder, mit einem
edleren Ausdruck, geruͤndet. Man ſie-
het, was an der Figur Ernſt oder Scherz,
Wort oder That iſt; man blickt auf den
Grund hinunter, und greift das Beſtaͤn-
dige oder Unſtatthafte ihres Charakters,
ihre Verſatilitaͤt und innere Ehrlichkeit
gleichſam mit Haͤnden.

Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus,
durch Darſtellung unerwartet-ſchrecklicher
Koͤnigsunfaͤlle und Kataſtrophen die Ur-
theile der Menſchen zu berichtigen, ihre

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0149" n="140"/>
        <p>Es i&#x017F;t vielleicht das ho&#x0364;ch&#x017F;te Verdien&#x017F;t<lb/>
der Poe&#x017F;ie, in&#x017F;onderheit des Drama, Sta&#x0364;nde<lb/>
und Charaktere aller Art (wenn mir das<lb/>
niedrige Gleichniß erlaubt i&#x017F;t) an dem fein-<lb/>
&#x017F;ten Spieß, aufs lang&#x017F;am&#x017F;te am Feuer eig-<lb/>
ner Thorheiten, Neigungen und Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften umzuwenden. In der Seele des<lb/>
Zu&#x017F;chauers werden die&#x017F;e Sta&#x0364;nde und Cha-<lb/>
raktere dadurch <hi rendition="#g">gahr</hi>, oder, mit einem<lb/>
edleren Ausdruck, <hi rendition="#g">geru&#x0364;ndet</hi>. Man &#x017F;ie-<lb/>
het, was an der Figur Ern&#x017F;t oder Scherz,<lb/>
Wort oder That i&#x017F;t; man blickt auf den<lb/>
Grund hinunter, und greift das Be&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
dige oder Un&#x017F;tatthafte ihres Charakters,<lb/>
ihre Ver&#x017F;atilita&#x0364;t und innere Ehrlichkeit<lb/>
gleich&#x017F;am mit Ha&#x0364;nden.</p><lb/>
        <p>Die alte Trago&#x0364;die ging darauf hinaus,<lb/>
durch Dar&#x017F;tellung unerwartet-&#x017F;chrecklicher<lb/>
Ko&#x0364;nigsunfa&#x0364;lle und Kata&#x017F;trophen die Ur-<lb/>
theile der Men&#x017F;chen zu berichtigen, ihre<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0149] Es iſt vielleicht das hoͤchſte Verdienſt der Poeſie, inſonderheit des Drama, Staͤnde und Charaktere aller Art (wenn mir das niedrige Gleichniß erlaubt iſt) an dem fein- ſten Spieß, aufs langſamſte am Feuer eig- ner Thorheiten, Neigungen und Leiden- ſchaften umzuwenden. In der Seele des Zuſchauers werden dieſe Staͤnde und Cha- raktere dadurch gahr, oder, mit einem edleren Ausdruck, geruͤndet. Man ſie- het, was an der Figur Ernſt oder Scherz, Wort oder That iſt; man blickt auf den Grund hinunter, und greift das Beſtaͤn- dige oder Unſtatthafte ihres Charakters, ihre Verſatilitaͤt und innere Ehrlichkeit gleichſam mit Haͤnden. Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus, durch Darſtellung unerwartet-ſchrecklicher Koͤnigsunfaͤlle und Kataſtrophen die Ur- theile der Menſchen zu berichtigen, ihre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/149
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/149>, abgerufen am 21.11.2024.