Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

"Beim Leben der Könige ist schwerer
über sie zu urtheilen, als nach ihrem Tode;
ein einziger Umstand verändert oft die
Sache so, daß man billigen muß, was man
vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei
seinen Lebzeiten getadelt, daß er den Suc-
ceßionskrieg unternahm; jetzt läßt man ihm
Gerechtigkeit wiederfahren, und jeder Un-
partheiische gestehet ein, daß er niedrig ge-
handelt hätte, wenn er das Testament des
Königes von Spanien nicht hätte annehmen
wollen. Jeder Mensch macht Fehler, also
auch die Fürsten; der wahre Weise der
Stoiker und der vollkommene Fürst haben
nicht existirt und werden nicht exsistiren.
Fürsten wie Karl der kühne, Ludwig XI.,
Alexander VI., Ludwig Sforzia sind die
Geißeln ihrer Völker und der Menschheit;
solche Fürsten aber exsistiren jetzt nicht in

E 4

„Beim Leben der Koͤnige iſt ſchwerer
uͤber ſie zu urtheilen, als nach ihrem Tode;
ein einziger Umſtand veraͤndert oft die
Sache ſo, daß man billigen muß, was man
vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei
ſeinen Lebzeiten getadelt, daß er den Suc-
ceßionskrieg unternahm; jetzt laͤßt man ihm
Gerechtigkeit wiederfahren, und jeder Un-
partheiiſche geſtehet ein, daß er niedrig ge-
handelt haͤtte, wenn er das Teſtament des
Koͤniges von Spanien nicht haͤtte annehmen
wollen. Jeder Menſch macht Fehler, alſo
auch die Fuͤrſten; der wahre Weiſe der
Stoiker und der vollkommene Fuͤrſt haben
nicht exiſtirt und werden nicht exſiſtiren.
Fuͤrſten wie Karl der kuͤhne, Ludwig XI.,
Alexander VI., Ludwig Sforzia ſind die
Geißeln ihrer Voͤlker und der Menſchheit;
ſolche Fuͤrſten aber exſiſtiren jetzt nicht in

E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0076" n="71"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>&#x201E;Beim Leben der Ko&#x0364;nige i&#x017F;t &#x017F;chwerer<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ie zu urtheilen, als nach ihrem Tode;<lb/>
ein einziger Um&#x017F;tand vera&#x0364;ndert oft die<lb/>
Sache &#x017F;o, daß man billigen muß, was man<lb/>
vorher verdammte. Ludwig <hi rendition="#aq">XIV.</hi> ward bei<lb/>
&#x017F;einen Lebzeiten getadelt, daß er den Suc-<lb/>
ceßionskrieg unternahm; jetzt la&#x0364;ßt man ihm<lb/>
Gerechtigkeit wiederfahren, und jeder Un-<lb/>
partheii&#x017F;che ge&#x017F;tehet ein, daß er niedrig ge-<lb/>
handelt ha&#x0364;tte, wenn er das Te&#x017F;tament des<lb/>
Ko&#x0364;niges von Spanien nicht ha&#x0364;tte annehmen<lb/>
wollen. Jeder Men&#x017F;ch macht Fehler, al&#x017F;o<lb/>
auch die Fu&#x0364;r&#x017F;ten; der wahre Wei&#x017F;e der<lb/>
Stoiker und der vollkommene Fu&#x0364;r&#x017F;t haben<lb/>
nicht <choice><sic>exi&#x017F;i&#x017F;tirt</sic><corr>exi&#x017F;tirt</corr></choice> und werden nicht ex&#x017F;i&#x017F;tiren.<lb/>
Fu&#x0364;r&#x017F;ten wie Karl der ku&#x0364;hne, Ludwig <hi rendition="#aq">XI.</hi>,<lb/>
Alexander <hi rendition="#aq">VI.</hi>, Ludwig Sforzia &#x017F;ind die<lb/>
Geißeln ihrer Vo&#x0364;lker und der Men&#x017F;chheit;<lb/>
&#x017F;olche Fu&#x0364;r&#x017F;ten aber ex&#x017F;i&#x017F;tiren jetzt nicht in<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 4</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0076] „Beim Leben der Koͤnige iſt ſchwerer uͤber ſie zu urtheilen, als nach ihrem Tode; ein einziger Umſtand veraͤndert oft die Sache ſo, daß man billigen muß, was man vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei ſeinen Lebzeiten getadelt, daß er den Suc- ceßionskrieg unternahm; jetzt laͤßt man ihm Gerechtigkeit wiederfahren, und jeder Un- partheiiſche geſtehet ein, daß er niedrig ge- handelt haͤtte, wenn er das Teſtament des Koͤniges von Spanien nicht haͤtte annehmen wollen. Jeder Menſch macht Fehler, alſo auch die Fuͤrſten; der wahre Weiſe der Stoiker und der vollkommene Fuͤrſt haben nicht exiſtirt und werden nicht exſiſtiren. Fuͤrſten wie Karl der kuͤhne, Ludwig XI., Alexander VI., Ludwig Sforzia ſind die Geißeln ihrer Voͤlker und der Menſchheit; ſolche Fuͤrſten aber exſiſtiren jetzt nicht in E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/76
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/76>, abgerufen am 05.05.2024.