Menschen angebildet hat, ja die in praktischen Fällen kein Richtmaas in sich hätte, wenn sie es nicht von jenem dunklen Gebilde in uns borgte. Sind alle Pflichten des Menschen nur Conventionen, die er als Mittel der Glückseligkeit sich selbst aussann und durch Erfahrung veststellte: so hören sie Augenblicks auf meine Pflichten zu seyn, wenn ich mich von ihrem Zweck, der Glückseligkeit, lossage. Der Syllogismus der Vernunft ist nun vollendet. Aber wie kamen sie denn in die Brust dessen, der nie über Glückseligkeit und die Mittel dazu speculirend dachte? wie kamen Pflichten der Ehe, der Vater- und Kindesliebe, der Familie und der Gesellschaft in den Geist eines Menschen, ehe er Erfahrungen des Guten und Bösen über jede derselben gesammlet hatte und also auf tau- sendfache Art zuerst ein Unmensch hätte seyn müssen, ehe er ein Mensch ward. Nein, gütige Gottheit, dem mörderischen Ungefähr überliessest du dein Geschöpf nicht. Den Thieren gabst du Jnstinct, dem Menschen grubest du dein Bild, Reli- gion und Humanität in die Seele: der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses thun und du ließest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen. Die Regel der Gerechtigkeit, die Grundsätze des Rechts der Gesellschaft, selbst die Monogamie als die dem Menschen natürlichste Ehe und Liebe, die Zärtlich-
keit
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Menſchen angebildet hat, ja die in praktiſchen Faͤllen kein Richtmaas in ſich haͤtte, wenn ſie es nicht von jenem dunklen Gebilde in uns borgte. Sind alle Pflichten des Menſchen nur Conventionen, die er als Mittel der Gluͤckſeligkeit ſich ſelbſt ausſann und durch Erfahrung veſtſtellte: ſo hoͤren ſie Augenblicks auf meine Pflichten zu ſeyn, wenn ich mich von ihrem Zweck, der Gluͤckſeligkeit, losſage. Der Syllogismus der Vernunft iſt nun vollendet. Aber wie kamen ſie denn in die Bruſt deſſen, der nie uͤber Gluͤckſeligkeit und die Mittel dazu ſpeculirend dachte? wie kamen Pflichten der Ehe, der Vater- und Kindesliebe, der Familie und der Geſellſchaft in den Geiſt eines Menſchen, ehe er Erfahrungen des Guten und Boͤſen uͤber jede derſelben geſammlet hatte und alſo auf tau- ſendfache Art zuerſt ein Unmenſch haͤtte ſeyn muͤſſen, ehe er ein Menſch ward. Nein, guͤtige Gottheit, dem moͤrderiſchen Ungefaͤhr uͤberlieſſeſt du dein Geſchoͤpf nicht. Den Thieren gabſt du Jnſtinct, dem Menſchen grubeſt du dein Bild, Reli- gion und Humanitaͤt in die Seele: der Umriß der Bildſaͤule liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann ſich nicht ſelbſt aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung ſollten dieſes thun und du ließeſt es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen. Die Regel der Gerechtigkeit, die Grundſaͤtze des Rechts der Geſellſchaft, ſelbſt die Monogamie als die dem Menſchen natuͤrlichſte Ehe und Liebe, die Zaͤrtlich-
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Menſchen angebildet hat, ja die in praktiſchen Faͤllen kein
Richtmaas in ſich haͤtte, wenn ſie es nicht von jenem dunklen
Gebilde in uns borgte. Sind alle Pflichten des Menſchen
nur Conventionen, die er als Mittel der Gluͤckſeligkeit ſich
ſelbſt ausſann und durch Erfahrung veſtſtellte: ſo hoͤren ſie
Augenblicks auf meine Pflichten zu ſeyn, wenn ich mich von
ihrem Zweck, der Gluͤckſeligkeit, losſage. Der Syllogismus
der Vernunft iſt nun vollendet. Aber wie kamen ſie denn in
die Bruſt deſſen, der nie uͤber Gluͤckſeligkeit und die Mittel
dazu ſpeculirend dachte? wie kamen Pflichten der Ehe, der
Vater- und Kindesliebe, der Familie und der Geſellſchaft in
den Geiſt eines Menſchen, ehe er Erfahrungen des Guten und
Boͤſen uͤber jede derſelben geſammlet hatte und alſo auf tau-
ſendfache Art zuerſt ein Unmenſch haͤtte ſeyn muͤſſen, ehe er ein
Menſch ward. Nein, guͤtige Gottheit, dem moͤrderiſchen
Ungefaͤhr uͤberlieſſeſt du dein Geſchoͤpf nicht. Den Thieren
gabſt du Jnſtinct, dem Menſchen grubeſt du dein Bild, Reli-
gion und Humanitaͤt in die Seele: der Umriß der Bildſaͤule
liegt im dunkeln tiefen Marmor da; nur er kann ſich nicht
ſelbſt aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft
und Erfahrung ſollten dieſes thun und du ließeſt es ihm an
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/287>, abgerufen am 24.11.2024.
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