beruhigt seyn möchte, ist in den Händen ihrer Priester, so daß bei vielen Völkerschaften der gemeinschaftliche Gottesdienst und seine Feste beinah das Einzige ist, das die unabhängigen Fa- milien zum Schatten eines Ganzen verbindet. Die Geschichte der Cultur wird zeigen, daß dieses bei den gebildetsten Völ- kern nicht anders gewesen. Aegypter und alle Morgenländer bis zum Rande der östlichen Welt hinauf, in Europa alle ge- bildete Nationen des Alterthums, Etrusker, Griechen und Rö- mer empfingen die Wissenschaften aus dem Schoos und unter dem Schleier religiöser Traditionen: so ward ihnen Poesie und Kunst, Musik und Schrift, Geschichte und Arzneikunst, Naturlehre und Metaphysik, Astronomie und Zeitrechnung, selbst die Sitten- und Staatslehre gegeben. Die ältesten Weisen thaten nichts, als das, was ihnen als Same gegeben war, sondern und zu eignen Gewächsen erziehen; welche Ent- wicklung sodann mit den Jahrhunderten fortging. Auch wir Nordländer haben unsre Wissenschaften in keinem, als dem Gewande der Religion erhalten und so kann man kühn mit der Geschichte aller Völker sagen: "der religiösen Tradition in Schrift und Sprache ist die Erde ihre Samenkörner aller höhern Cultur schuldig."
Zweitens. Die Natur der Sache selbst bestätigt diese historische Behauptung: denn was wars, das den Menschen
über
beruhigt ſeyn moͤchte, iſt in den Haͤnden ihrer Prieſter, ſo daß bei vielen Voͤlkerſchaften der gemeinſchaftliche Gottesdienſt und ſeine Feſte beinah das Einzige iſt, das die unabhaͤngigen Fa- milien zum Schatten eines Ganzen verbindet. Die Geſchichte der Cultur wird zeigen, daß dieſes bei den gebildetſten Voͤl- kern nicht anders geweſen. Aegypter und alle Morgenlaͤnder bis zum Rande der oͤſtlichen Welt hinauf, in Europa alle ge- bildete Nationen des Alterthums, Etrusker, Griechen und Roͤ- mer empfingen die Wiſſenſchaften aus dem Schoos und unter dem Schleier religioͤſer Traditionen: ſo ward ihnen Poeſie und Kunſt, Muſik und Schrift, Geſchichte und Arzneikunſt, Naturlehre und Metaphyſik, Aſtronomie und Zeitrechnung, ſelbſt die Sitten- und Staatslehre gegeben. Die aͤlteſten Weiſen thaten nichts, als das, was ihnen als Same gegeben war, ſondern und zu eignen Gewaͤchſen erziehen; welche Ent- wicklung ſodann mit den Jahrhunderten fortging. Auch wir Nordlaͤnder haben unſre Wiſſenſchaften in keinem, als dem Gewande der Religion erhalten und ſo kann man kuͤhn mit der Geſchichte aller Voͤlker ſagen: ”der religioͤſen Tradition in Schrift und Sprache iſt die Erde ihre Samenkoͤrner aller hoͤhern Cultur ſchuldig.”
Zweitens. Die Natur der Sache ſelbſt beſtaͤtigt dieſe hiſtoriſche Behauptung: denn was wars, das den Menſchen
uͤber
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beruhigt ſeyn moͤchte, iſt in den Haͤnden ihrer Prieſter, ſo daß
bei vielen Voͤlkerſchaften der gemeinſchaftliche Gottesdienſt und
ſeine Feſte beinah das Einzige iſt, das die unabhaͤngigen Fa-
milien zum Schatten eines Ganzen verbindet. Die Geſchichte
der Cultur wird zeigen, daß dieſes bei den gebildetſten Voͤl-
kern nicht anders geweſen. Aegypter und alle Morgenlaͤnder
bis zum Rande der oͤſtlichen Welt hinauf, in Europa alle ge-
bildete Nationen des Alterthums, Etrusker, Griechen und Roͤ-
mer empfingen die Wiſſenſchaften aus dem Schoos und unter
dem Schleier religioͤſer Traditionen: ſo ward ihnen Poeſie
und Kunſt, Muſik und Schrift, Geſchichte und Arzneikunſt,
Naturlehre und Metaphyſik, Aſtronomie und Zeitrechnung,
ſelbſt die Sitten- und Staatslehre gegeben. Die aͤlteſten
Weiſen thaten nichts, als das, was ihnen als Same gegeben
war, ſondern und zu eignen Gewaͤchſen erziehen; welche Ent-
wicklung ſodann mit den Jahrhunderten fortging. Auch wir
Nordlaͤnder haben unſre Wiſſenſchaften in keinem, als dem
Gewande der Religion erhalten und ſo kann man kuͤhn mit
der Geſchichte aller Voͤlker ſagen: ”der religioͤſen Tradition in
Schrift und Sprache iſt die Erde ihre Samenkoͤrner aller
hoͤhern Cultur ſchuldig.”
Zweitens. Die Natur der Sache ſelbſt beſtaͤtigt dieſe
hiſtoriſche Behauptung: denn was wars, das den Menſchen
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/282>, abgerufen am 24.11.2024.
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