Krone im Namen Gottes geführt hatte, fand es leichter, sie in seinem eignen Namen zu tragen und das Volk war jetzt durch Regenten und Weise zu diesem andern Scepter gewöhnet.
Nun ist es erstens unläugbar, daß nur Religion es ge- wesen sei, die den Völkern allenthalben die erste Cultur und Wissenschaft brachte, ja daß diese ursprünglich nichts als eine Art religiöser Tradition waren. Unter allen wilden Völkern ist noch jetzt ihre wenige Cultur und Wissenschaft mit der Religion verbunden. Die Sprache ih- rer Religion ist eine erhabnere feierliche Sprache, die nicht nur die heiligen Gebräuche mit Gesang und Tanz begleitet, son- dern auch meistens von den Sagen der Urwelt ausgeht, mithin das Einzige ist, was diese Völker von alten Nachrichten, dem Gedächtniß der Vorwelt oder einem Schimmer der Wissen- schaft übrig haben. Die Zahl und das Bemerken der Tage, der Grund aller Zeitrechnung, war oder ist überall heilig; die Wissenschaft des Himmels und der Natur, wie sie auch seyn möge, haben die Magier aller Welttheile sich zugeeignet. Auch die Arznei- und Wahrsagerkunst, die Wissenschaft des Ver- borgnen und Auslegung der Träume, die Kunst der Charak- tere, die Aussöhnung mit den Göttern, die Befriedigung der Verstorbnen, Nachrichten von ihnen -- kurz das ganze dunkle Reich der Fragen und Aufschlüße, über die der Mensch so gern
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Krone im Namen Gottes gefuͤhrt hatte, fand es leichter, ſie in ſeinem eignen Namen zu tragen und das Volk war jetzt durch Regenten und Weiſe zu dieſem andern Scepter gewoͤhnet.
Nun iſt es erſtens unlaͤugbar, daß nur Religion es ge- weſen ſei, die den Voͤlkern allenthalben die erſte Cultur und Wiſſenſchaft brachte, ja daß dieſe urſpruͤnglich nichts als eine Art religioͤſer Tradition waren. Unter allen wilden Voͤlkern iſt noch jetzt ihre wenige Cultur und Wiſſenſchaft mit der Religion verbunden. Die Sprache ih- rer Religion iſt eine erhabnere feierliche Sprache, die nicht nur die heiligen Gebraͤuche mit Geſang und Tanz begleitet, ſon- dern auch meiſtens von den Sagen der Urwelt ausgeht, mithin das Einzige iſt, was dieſe Voͤlker von alten Nachrichten, dem Gedaͤchtniß der Vorwelt oder einem Schimmer der Wiſſen- ſchaft uͤbrig haben. Die Zahl und das Bemerken der Tage, der Grund aller Zeitrechnung, war oder iſt uͤberall heilig; die Wiſſenſchaft des Himmels und der Natur, wie ſie auch ſeyn moͤge, haben die Magier aller Welttheile ſich zugeeignet. Auch die Arznei- und Wahrſagerkunſt, die Wiſſenſchaft des Ver- borgnen und Auslegung der Traͤume, die Kunſt der Charak- tere, die Ausſoͤhnung mit den Goͤttern, die Befriedigung der Verſtorbnen, Nachrichten von ihnen — kurz das ganze dunkle Reich der Fragen und Aufſchluͤße, uͤber die der Menſch ſo gern
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Krone im Namen Gottes gefuͤhrt hatte, fand es leichter, ſie
in ſeinem eignen Namen zu tragen und das Volk war jetzt
durch Regenten und Weiſe zu dieſem andern Scepter gewoͤhnet.
Nun iſt es erſtens unlaͤugbar, daß nur Religion es ge-
weſen ſei, die den Voͤlkern allenthalben die erſte Cultur
und Wiſſenſchaft brachte, ja daß dieſe urſpruͤnglich
nichts als eine Art religioͤſer Tradition waren. Unter
allen wilden Voͤlkern iſt noch jetzt ihre wenige Cultur und
Wiſſenſchaft mit der Religion verbunden. Die Sprache ih-
rer Religion iſt eine erhabnere feierliche Sprache, die nicht nur
die heiligen Gebraͤuche mit Geſang und Tanz begleitet, ſon-
dern auch meiſtens von den Sagen der Urwelt ausgeht, mithin
das Einzige iſt, was dieſe Voͤlker von alten Nachrichten, dem
Gedaͤchtniß der Vorwelt oder einem Schimmer der Wiſſen-
ſchaft uͤbrig haben. Die Zahl und das Bemerken der Tage,
der Grund aller Zeitrechnung, war oder iſt uͤberall heilig; die
Wiſſenſchaft des Himmels und der Natur, wie ſie auch ſeyn
moͤge, haben die Magier aller Welttheile ſich zugeeignet. Auch
die Arznei- und Wahrſagerkunſt, die Wiſſenſchaft des Ver-
borgnen und Auslegung der Traͤume, die Kunſt der Charak-
tere, die Ausſoͤhnung mit den Goͤttern, die Befriedigung der
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/281>, abgerufen am 24.11.2024.
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