Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derselben aufbehalten.
Für jetzt seyn nur noch einige allgemeine Blicke vergönnet:

1. Ein zwar leichter aber böser Grundsatz wäre es zur
Philosophie der Menschen-Geschichte: "der Mensch sei ein
Thier das einen Herren nöthig habe und von diesem Herren
oder von einer Verbindung derselben das Glück seiner Endbe-
stimmung erwarte." Kehre den Satz um: der Mensch, der
einen Herren nöthig hat, ist ein Thier; sobald er Mensch wird,
hat er keines eigentlichen Herren mehr nöthig. Die Natur
nämlich hat unserm Geschlecht keinen Herren bezeichnet; nur
thierische Laster und Leidenschaften machen uns desselben be-
dürftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann
des Weibes: das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der
Kranke des Arztes, der Streitende des Entscheiders, der Haufe
Volks eines Anführers nöthig: dies sind Natur-Verhältniße,
die im Begrif der Sache liegen. Jm Begrif des Menschen
liegt der Begrif eines ihm nöthigen Despoten, der auch Mensch
sei, nicht: jener muß erst schwach gedacht werden, damit er
eines Beschützers, unmündig, damit er eines Vormundes, wild,
damit er eines Bezähmers, abscheulich, damit er eines Straf-
Engels nöthig habe. Alle Regierungen der Menschen sind
also nur aus Noth entstanden und um dieser fortwährenden
Noth willen da. So wie es nun ein schlechter Vater ist, der

sein

bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derſelben aufbehalten.
Fuͤr jetzt ſeyn nur noch einige allgemeine Blicke vergoͤnnet:

1. Ein zwar leichter aber boͤſer Grundſatz waͤre es zur
Philoſophie der Menſchen-Geſchichte: „der Menſch ſei ein
Thier das einen Herren noͤthig habe und von dieſem Herren
oder von einer Verbindung derſelben das Gluͤck ſeiner Endbe-
ſtimmung erwarte.„ Kehre den Satz um: der Menſch, der
einen Herren noͤthig hat, iſt ein Thier; ſobald er Menſch wird,
hat er keines eigentlichen Herren mehr noͤthig. Die Natur
naͤmlich hat unſerm Geſchlecht keinen Herren bezeichnet; nur
thieriſche Laſter und Leidenſchaften machen uns deſſelben be-
duͤrftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann
des Weibes: das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der
Kranke des Arztes, der Streitende des Entſcheiders, der Haufe
Volks eines Anfuͤhrers noͤthig: dies ſind Natur-Verhaͤltniße,
die im Begrif der Sache liegen. Jm Begrif des Menſchen
liegt der Begrif eines ihm noͤthigen Deſpoten, der auch Menſch
ſei, nicht: jener muß erſt ſchwach gedacht werden, damit er
eines Beſchuͤtzers, unmuͤndig, damit er eines Vormundes, wild,
damit er eines Bezaͤhmers, abſcheulich, damit er eines Straf-
Engels noͤthig habe. Alle Regierungen der Menſchen ſind
alſo nur aus Noth entſtanden und um dieſer fortwaͤhrenden
Noth willen da. So wie es nun ein ſchlechter Vater iſt, der

ſein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0272" n="260"/>
bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden der&#x017F;elben aufbehalten.<lb/>
Fu&#x0364;r jetzt &#x017F;eyn nur noch einige allgemeine Blicke vergo&#x0364;nnet:</p><lb/>
          <p>1. Ein zwar leichter aber bo&#x0364;&#x017F;er Grund&#x017F;atz wa&#x0364;re es zur<lb/>
Philo&#x017F;ophie der Men&#x017F;chen-Ge&#x017F;chichte: &#x201E;der Men&#x017F;ch &#x017F;ei ein<lb/>
Thier das einen Herren no&#x0364;thig habe und von die&#x017F;em Herren<lb/>
oder von einer Verbindung der&#x017F;elben das Glu&#x0364;ck &#x017F;einer Endbe-<lb/>
&#x017F;timmung erwarte.&#x201E; Kehre den Satz um: der Men&#x017F;ch, der<lb/>
einen Herren no&#x0364;thig hat, i&#x017F;t ein Thier; &#x017F;obald er Men&#x017F;ch wird,<lb/>
hat er keines eigentlichen Herren mehr no&#x0364;thig. Die Natur<lb/>
na&#x0364;mlich hat un&#x017F;erm Ge&#x017F;chlecht keinen Herren bezeichnet; nur<lb/>
thieri&#x017F;che La&#x017F;ter und Leiden&#x017F;chaften machen uns de&#x017F;&#x017F;elben be-<lb/>
du&#x0364;rftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann<lb/>
des Weibes: das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der<lb/>
Kranke des Arztes, der Streitende des Ent&#x017F;cheiders, der Haufe<lb/>
Volks eines Anfu&#x0364;hrers no&#x0364;thig: dies &#x017F;ind Natur-Verha&#x0364;ltniße,<lb/>
die im Begrif der Sache liegen. Jm Begrif des Men&#x017F;chen<lb/>
liegt der Begrif eines ihm no&#x0364;thigen De&#x017F;poten, der auch Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ei, nicht: jener muß er&#x017F;t &#x017F;chwach gedacht werden, damit er<lb/>
eines Be&#x017F;chu&#x0364;tzers, unmu&#x0364;ndig, damit er eines Vormundes, wild,<lb/>
damit er eines Beza&#x0364;hmers, ab&#x017F;cheulich, damit er eines Straf-<lb/>
Engels no&#x0364;thig habe. Alle Regierungen der Men&#x017F;chen &#x017F;ind<lb/>
al&#x017F;o nur aus Noth ent&#x017F;tanden und um die&#x017F;er fortwa&#x0364;hrenden<lb/>
Noth willen da. So wie es nun ein &#x017F;chlechter Vater i&#x017F;t, der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ein</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0272] bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derſelben aufbehalten. Fuͤr jetzt ſeyn nur noch einige allgemeine Blicke vergoͤnnet: 1. Ein zwar leichter aber boͤſer Grundſatz waͤre es zur Philoſophie der Menſchen-Geſchichte: „der Menſch ſei ein Thier das einen Herren noͤthig habe und von dieſem Herren oder von einer Verbindung derſelben das Gluͤck ſeiner Endbe- ſtimmung erwarte.„ Kehre den Satz um: der Menſch, der einen Herren noͤthig hat, iſt ein Thier; ſobald er Menſch wird, hat er keines eigentlichen Herren mehr noͤthig. Die Natur naͤmlich hat unſerm Geſchlecht keinen Herren bezeichnet; nur thieriſche Laſter und Leidenſchaften machen uns deſſelben be- duͤrftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann des Weibes: das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der Kranke des Arztes, der Streitende des Entſcheiders, der Haufe Volks eines Anfuͤhrers noͤthig: dies ſind Natur-Verhaͤltniße, die im Begrif der Sache liegen. Jm Begrif des Menſchen liegt der Begrif eines ihm noͤthigen Deſpoten, der auch Menſch ſei, nicht: jener muß erſt ſchwach gedacht werden, damit er eines Beſchuͤtzers, unmuͤndig, damit er eines Vormundes, wild, damit er eines Bezaͤhmers, abſcheulich, damit er eines Straf- Engels noͤthig habe. Alle Regierungen der Menſchen ſind alſo nur aus Noth entſtanden und um dieſer fortwaͤhrenden Noth willen da. So wie es nun ein ſchlechter Vater iſt, der ſein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/272
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/272>, abgerufen am 24.11.2024.