in Schriftzügen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den flüch- tigen Geist nicht nur in Worte sondern in Buchstaben zu fes- seln, erfand; er wirkte als ein Gott unter den Menschena).
Aber was bei der Sprache sichtbar war, ist hier noch viel- mehr sichtbar, nämlich, daß auch dies Mittel der Verewigung unsrer Gedanken den Geist und die Rede zwar bestimmt, aber auch eingeschränkt und auf mannichfaltige Weise gefesselt habe. Nicht nur, daß mit den Buchstaben allmälich die le- bendigen Accente und Gebehrden erloschen, sie, die vorher der Rede so starken Eingang ins Herz verschafft hatten; nicht nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteristischen Jdiome einzelner Stämme und Völker dadurch weniger ward; auch das Gedächtniß der Menschen und ihre lebendige Geisteskraft schwächte sich bei diesem künstlichen Hülfsmittel vorgezeichne- ter Gedankenformen. Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre längst erlegen die menschliche Seele, wenn nicht durch man- cherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserm Geist wiederum Luft schaffte. Jn Buchstaben gefesselt schleicht der Verstand zuletzt mühsam einher; unsre besten Gedanken ver- stummen in todten schriftlichen Zügen. Dies alles indessen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteste,
stilleste,
a) Die Geschichte dieser und andrer Erfindungen, sofern sie zum Ge- mählde der Menschheit gehört, wird der Verfolg geben.
in Schriftzuͤgen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den fluͤch- tigen Geiſt nicht nur in Worte ſondern in Buchſtaben zu feſ- ſeln, erfand; er wirkte als ein Gott unter den Menſchena).
Aber was bei der Sprache ſichtbar war, iſt hier noch viel- mehr ſichtbar, naͤmlich, daß auch dies Mittel der Verewigung unſrer Gedanken den Geiſt und die Rede zwar beſtimmt, aber auch eingeſchraͤnkt und auf mannichfaltige Weiſe gefeſſelt habe. Nicht nur, daß mit den Buchſtaben allmaͤlich die le- bendigen Accente und Gebehrden erloſchen, ſie, die vorher der Rede ſo ſtarken Eingang ins Herz verſchafft hatten; nicht nur, daß der Dialekte, mithin auch der charakteriſtiſchen Jdiome einzelner Staͤmme und Voͤlker dadurch weniger ward; auch das Gedaͤchtniß der Menſchen und ihre lebendige Geiſteskraft ſchwaͤchte ſich bei dieſem kuͤnſtlichen Huͤlfsmittel vorgezeichne- ter Gedankenformen. Unter Gelehrſamkeit und Buͤchern waͤre laͤngſt erlegen die menſchliche Seele, wenn nicht durch man- cherlei zerſtoͤrende Revolutionen die Vorſehung unſerm Geiſt wiederum Luft ſchaffte. Jn Buchſtaben gefeſſelt ſchleicht der Verſtand zuletzt muͤhſam einher; unſre beſten Gedanken ver- ſtummen in todten ſchriftlichen Zuͤgen. Dies alles indeſſen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteſte,
ſtilleſte,
a) Die Geſchichte dieſer und andrer Erfindungen, ſofern ſie zum Ge- maͤhlde der Menſchheit gehoͤrt, wird der Verfolg geben.
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in Schriftzuͤgen. Der Sterbliche, der dies Mittel, den fluͤch-
tigen Geiſt nicht nur in Worte ſondern in Buchſtaben zu feſ-
ſeln, erfand; er wirkte als ein Gott unter den Menſchen a).
Aber was bei der Sprache ſichtbar war, iſt hier noch viel-
mehr ſichtbar, naͤmlich, daß auch dies Mittel der Verewigung
unſrer Gedanken den Geiſt und die Rede zwar beſtimmt,
aber auch eingeſchraͤnkt und auf mannichfaltige Weiſe gefeſſelt
habe. Nicht nur, daß mit den Buchſtaben allmaͤlich die le-
bendigen Accente und Gebehrden erloſchen, ſie, die vorher der
Rede ſo ſtarken Eingang ins Herz verſchafft hatten; nicht nur,
daß der Dialekte, mithin auch der charakteriſtiſchen Jdiome
einzelner Staͤmme und Voͤlker dadurch weniger ward; auch
das Gedaͤchtniß der Menſchen und ihre lebendige Geiſteskraft
ſchwaͤchte ſich bei dieſem kuͤnſtlichen Huͤlfsmittel vorgezeichne-
ter Gedankenformen. Unter Gelehrſamkeit und Buͤchern waͤre
laͤngſt erlegen die menſchliche Seele, wenn nicht durch man-
cherlei zerſtoͤrende Revolutionen die Vorſehung unſerm Geiſt
wiederum Luft ſchaffte. Jn Buchſtaben gefeſſelt ſchleicht der
Verſtand zuletzt muͤhſam einher; unſre beſten Gedanken ver-
ſtummen in todten ſchriftlichen Zuͤgen. Dies alles indeſſen
hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteſte,
ſtilleſte,
a) Die Geſchichte dieſer und andrer Erfindungen, ſofern ſie zum Ge-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/251>, abgerufen am 16.07.2024.
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