seine stolzeste Hoffnung verlieret. Man lese die Klage des Grön- länders um seinen Sohna), man höre die Klagen Oßians um seinen Oskar; und man wird in ihnen Wunden des Vater- herzens, die schönsten Wunden der männlichen Brust bluten sehen -- --
Die dankbare Liebe des Sohns zu seinem Vater ist frei- lich nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem der Vater den Sohn liebte; aber auch das ist Naturabsicht. Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf seine Söhne hinunter: der vollere Strom soll hinab, nicht auf- wärts fliessen: denn nur also erhält sich die Kette stets wach- sender, neuer Geschlechter. Es ist also nicht als Unnatur zu schelten, wenn einige vom Mangel gedrückte Völker das Kind dem abgelebten Vater vorziehn oder wie einige Erzählungen sagen, den Tod der Vergreiseten sogar befördern. Nicht Haß, sondern traurige Noth oder gar eine kalte Gutmüthigkeit ist diese Beförderung, da sie die Alten nicht nähren, nicht mit- nehmen können und ihnen also lieber mit freundschaftlicher Hand selbst ein Quaalenloses Ende bereiten als sie den Zäh- nen der Thiere zurücklassen wollen. Kann nicht im Drange der Noth, wehmüthig genug, der Freund den Freund tödten und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohlthat er-
weisen,
a) Volkslieder Th. 2. S. 128.
ſeine ſtolzeſte Hoffnung verlieret. Man leſe die Klage des Groͤn- laͤnders um ſeinen Sohna), man hoͤre die Klagen Oßians um ſeinen Oſkar; und man wird in ihnen Wunden des Vater- herzens, die ſchoͤnſten Wunden der maͤnnlichen Bruſt bluten ſehen — —
Die dankbare Liebe des Sohns zu ſeinem Vater iſt frei- lich nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem der Vater den Sohn liebte; aber auch das iſt Naturabſicht. Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf ſeine Soͤhne hinunter: der vollere Strom ſoll hinab, nicht auf- waͤrts flieſſen: denn nur alſo erhaͤlt ſich die Kette ſtets wach- ſender, neuer Geſchlechter. Es iſt alſo nicht als Unnatur zu ſchelten, wenn einige vom Mangel gedruͤckte Voͤlker das Kind dem abgelebten Vater vorziehn oder wie einige Erzaͤhlungen ſagen, den Tod der Vergreiſeten ſogar befoͤrdern. Nicht Haß, ſondern traurige Noth oder gar eine kalte Gutmuͤthigkeit iſt dieſe Befoͤrderung, da ſie die Alten nicht naͤhren, nicht mit- nehmen koͤnnen und ihnen alſo lieber mit freundſchaftlicher Hand ſelbſt ein Quaalenloſes Ende bereiten als ſie den Zaͤh- nen der Thiere zuruͤcklaſſen wollen. Kann nicht im Drange der Noth, wehmuͤthig genug, der Freund den Freund toͤdten und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohlthat er-
weiſen,
a) Volkslieder Th. 2. S. 128.
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ſeine ſtolzeſte Hoffnung verlieret. Man leſe die Klage des Groͤn-
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um ſeinen Oſkar; und man wird in ihnen Wunden des Vater-
herzens, die ſchoͤnſten Wunden der maͤnnlichen Bruſt bluten
ſehen — —
Die dankbare Liebe des Sohns zu ſeinem Vater iſt frei-
lich nur eine geringe Wiedervergeltung des Triebes, mit dem
der Vater den Sohn liebte; aber auch das iſt Naturabſicht.
Sobald der Sohn Vater wird, wirkt das Herz auf ſeine
Soͤhne hinunter: der vollere Strom ſoll hinab, nicht auf-
waͤrts flieſſen: denn nur alſo erhaͤlt ſich die Kette ſtets wach-
ſender, neuer Geſchlechter. Es iſt alſo nicht als Unnatur zu
ſchelten, wenn einige vom Mangel gedruͤckte Voͤlker das Kind
dem abgelebten Vater vorziehn oder wie einige Erzaͤhlungen
ſagen, den Tod der Vergreiſeten ſogar befoͤrdern. Nicht Haß,
ſondern traurige Noth oder gar eine kalte Gutmuͤthigkeit iſt
dieſe Befoͤrderung, da ſie die Alten nicht naͤhren, nicht mit-
nehmen koͤnnen und ihnen alſo lieber mit freundſchaftlicher
Hand ſelbſt ein Quaalenloſes Ende bereiten als ſie den Zaͤh-
nen der Thiere zuruͤcklaſſen wollen. Kann nicht im Drange
der Noth, wehmuͤthig genug, der Freund den Freund toͤdten
und ihm, den er nicht erretten kann, damit eine Wohlthat er-
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a) Volkslieder Th. 2. S. 128.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/202>, abgerufen am 29.11.2024.
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