Reizbarkeit und Oekonomie der Säfte. Das Blut fließt träger und das Herz schlägt matter; daher hier der schwä- chere Geschlechtstrieb, dessen Reize mit der zunehmenden Wärme anderer Länder, so ungeheuer wachsen. Spät er- wachet derselbe: die Unverheiratheten leben züchtig und die Weiber müssen zur beschwerlichen Ehe fast gezwungen wer- den. Sie gebähren weniger, so daß sie die vielgebährenden lüsternen Europäer mit den Hunden vergleichen: in ihrer Ehe, so wie in ihrer ganzen Lebensart herrscht eine stille Sittsamkeit, ein zähes Einhalten der Affekten. Unfühlbar für jene Reizungen, mit denen ein wärmeres Klima auch flüchtigere Lebensgeister bildet, leben und sterben sie still und verträglich, gleichgültig-vergnügt und nur aus Nothdurft thätig. Der Vater erzieht seinen Sohn mit und zu jener gefaßten Gleichgültigkeit, die sie für die Tugend und Glück- seligkeit des Lebens achten und die Mutter säugt ihr Kind lange und mit aller tiefen, zähen Liebe der Mutterthiere. Was ihnen die Natur an Reiz und Elasticität der Fibern versagt hat, hat sie ihnen an nachhaltender, daurender Stär- ke gegeben und sie mit jener wärmenden Fettigkeit, mit jenem Reichthum an Blut, der ihren Aushauch selbst in eingeschloßnen Gebäuden erstikkend warm macht, um- kleidet.
Mich
Reizbarkeit und Oekonomie der Saͤfte. Das Blut fließt traͤger und das Herz ſchlaͤgt matter; daher hier der ſchwaͤ- chere Geſchlechtstrieb, deſſen Reize mit der zunehmenden Waͤrme anderer Laͤnder, ſo ungeheuer wachſen. Spaͤt er- wachet derſelbe: die Unverheiratheten leben zuͤchtig und die Weiber muͤſſen zur beſchwerlichen Ehe faſt gezwungen wer- den. Sie gebaͤhren weniger, ſo daß ſie die vielgebaͤhrenden luͤſternen Europaͤer mit den Hunden vergleichen: in ihrer Ehe, ſo wie in ihrer ganzen Lebensart herrſcht eine ſtille Sittſamkeit, ein zaͤhes Einhalten der Affekten. Unfuͤhlbar fuͤr jene Reizungen, mit denen ein waͤrmeres Klima auch fluͤchtigere Lebensgeiſter bildet, leben und ſterben ſie ſtill und vertraͤglich, gleichguͤltig-vergnuͤgt und nur aus Nothdurft thaͤtig. Der Vater erzieht ſeinen Sohn mit und zu jener gefaßten Gleichguͤltigkeit, die ſie fuͤr die Tugend und Gluͤck- ſeligkeit des Lebens achten und die Mutter ſaͤugt ihr Kind lange und mit aller tiefen, zaͤhen Liebe der Mutterthiere. Was ihnen die Natur an Reiz und Elaſticitaͤt der Fibern verſagt hat, hat ſie ihnen an nachhaltender, daurender Staͤr- ke gegeben und ſie mit jener waͤrmenden Fettigkeit, mit jenem Reichthum an Blut, der ihren Aushauch ſelbſt in eingeſchloßnen Gebaͤuden erſtikkend warm macht, um- kleidet.
Mich
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Reizbarkeit und Oekonomie der Saͤfte. Das Blut fließt
traͤger und das Herz ſchlaͤgt matter; daher hier der ſchwaͤ-
chere Geſchlechtstrieb, deſſen Reize mit der zunehmenden
Waͤrme anderer Laͤnder, ſo ungeheuer wachſen. Spaͤt er-
wachet derſelbe: die Unverheiratheten leben zuͤchtig und die
Weiber muͤſſen zur beſchwerlichen Ehe faſt gezwungen wer-
den. Sie gebaͤhren weniger, ſo daß ſie die vielgebaͤhrenden
luͤſternen Europaͤer mit den Hunden vergleichen: in ihrer
Ehe, ſo wie in ihrer ganzen Lebensart herrſcht eine ſtille
Sittſamkeit, ein zaͤhes Einhalten der Affekten. Unfuͤhlbar
fuͤr jene Reizungen, mit denen ein waͤrmeres Klima auch
fluͤchtigere Lebensgeiſter bildet, leben und ſterben ſie ſtill und
vertraͤglich, gleichguͤltig-vergnuͤgt und nur aus Nothdurft
thaͤtig. Der Vater erzieht ſeinen Sohn mit und zu jener
gefaßten Gleichguͤltigkeit, die ſie fuͤr die Tugend und Gluͤck-
ſeligkeit des Lebens achten und die Mutter ſaͤugt ihr Kind
lange und mit aller tiefen, zaͤhen Liebe der Mutterthiere.
Was ihnen die Natur an Reiz und Elaſticitaͤt der Fibern
verſagt hat, hat ſie ihnen an nachhaltender, daurender Staͤr-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/19>, abgerufen am 21.11.2024.
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