I. Die Sinnlichkeit unsres Geschlechts verändert sich mit Bildungen und Klimaten; überall aber ist ein menschlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanität führet.
Alle Nationen, die kranken Albinos etwa ausgenommen, ha- ben ihre fünf oder sechs menschliche Sinne; die Unfühlbaren des Diodorus oder die taub- und stummen Völker sind in der neuern Menschengeschichte eine Fabel. Jndeß, wer auf die Verschiedenheit der äußern Empfindungen auch nur unter uns Acht hat und sodenn an die zahllose Menge denkt, die in allen Klimaten der Erde lebet, der wird sich hiebei wie vor einem Weltmeer finden, auf dem sich Wogen in Wogen verlieren. Jeder Mensch hat ein eignes Maas, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander, so daß bei außerordentlichen Fällen oft die wunderbarsten Aeußerungen zum Vorschein kommen, wie einem Menschen bei dieser oder bei jener Sache sei. Aerzte und Philosophen haben daher schon ganze Sammlungen von eigenthümlich-sonderbaren Em- pfindungen d. i. Jdiosynkrasien gegeben, die oft so seltsam als unerklärlich sind. Meistens merken wir auf solche nur in
Krank-
I. Die Sinnlichkeit unſres Geſchlechts veraͤndert ſich mit Bildungen und Klimaten; uͤberall aber iſt ein menſchlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanitaͤt fuͤhret.
Alle Nationen, die kranken Albinos etwa ausgenommen, ha- ben ihre fuͤnf oder ſechs menſchliche Sinne; die Unfuͤhlbaren des Diodorus oder die taub- und ſtummen Voͤlker ſind in der neuern Menſchengeſchichte eine Fabel. Jndeß, wer auf die Verſchiedenheit der aͤußern Empfindungen auch nur unter uns Acht hat und ſodenn an die zahlloſe Menge denkt, die in allen Klimaten der Erde lebet, der wird ſich hiebei wie vor einem Weltmeer finden, auf dem ſich Wogen in Wogen verlieren. Jeder Menſch hat ein eignes Maas, gleichſam eine eigne Stimmung aller ſinnlichen Gefuͤhle zu einander, ſo daß bei außerordentlichen Faͤllen oft die wunderbarſten Aeußerungen zum Vorſchein kommen, wie einem Menſchen bei dieſer oder bei jener Sache ſei. Aerzte und Philoſophen haben daher ſchon ganze Sammlungen von eigenthuͤmlich-ſonderbaren Em- pfindungen d. i. Jdioſynkraſien gegeben, die oft ſo ſeltſam als unerklaͤrlich ſind. Meiſtens merken wir auf ſolche nur in
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I.
Die Sinnlichkeit unſres Geſchlechts veraͤndert ſich
mit Bildungen und Klimaten; uͤberall aber iſt ein
menſchlicher Gebrauch der Sinne das,
was zur Humanitaͤt fuͤhret.
Alle Nationen, die kranken Albinos etwa ausgenommen, ha-
ben ihre fuͤnf oder ſechs menſchliche Sinne; die Unfuͤhlbaren
des Diodorus oder die taub- und ſtummen Voͤlker ſind in der
neuern Menſchengeſchichte eine Fabel. Jndeß, wer auf die
Verſchiedenheit der aͤußern Empfindungen auch nur unter uns
Acht hat und ſodenn an die zahlloſe Menge denkt, die in allen
Klimaten der Erde lebet, der wird ſich hiebei wie vor einem
Weltmeer finden, auf dem ſich Wogen in Wogen verlieren.
Jeder Menſch hat ein eignes Maas, gleichſam eine eigne
Stimmung aller ſinnlichen Gefuͤhle zu einander, ſo daß bei
außerordentlichen Faͤllen oft die wunderbarſten Aeußerungen
zum Vorſchein kommen, wie einem Menſchen bei dieſer oder
bei jener Sache ſei. Aerzte und Philoſophen haben daher
ſchon ganze Sammlungen von eigenthuͤmlich-ſonderbaren Em-
pfindungen d. i. Jdioſynkraſien gegeben, die oft ſo ſeltſam als
unerklaͤrlich ſind. Meiſtens merken wir auf ſolche nur in
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/142>, abgerufen am 01.05.2024.
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