Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

u. f. genau die Region, in welcher sich die meisten Verände-
rungen zeigen.

Endlich, da die Lebenskraft alle Theile zur Gemeinschaft
bindet und die Organisation ein vielverschlungener Kreis ist,
der eigentlich nirgend Anfang und Ende findet: so wird be-
greiflich, daß die innigste Hauptveränderung zuletzt auch in
den vestesten Theilen
sichtbar werden müsse, die vermöge
der innern leidenden Kraft vom Schädel bis zum Fuß in ein
andres Verhältniß treten. Schwer gehet die Natur an diese
Verwandlung: auch bei Misgeburten, wo sie in ihrem Kunst-
werk gewaltsam gestört wird, hat sie wunderbare Wege der
Erstattung, wie ein geschlagner Feldherr eben im Rückzuge
die meiste Weisheit zeiget. Jndessen zeigen die verschiednen
Bildungen der Völker, daß auch diese, die schwerste Ver-
wandlung beim Menschengebilde möglich war: denn eben die
tausendfache Zusammensetzung und feine Beweglichkeit unsrer
Maschiene, sammt den unnennbar-mannichfaltigen Mächten
die auf sie wirken, machten sie möglich. Aber auch diese
schwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket.
Jahrhunderte lang haben Nationen ihre Köpfe geformt, ihre
Nasen durchbort, ihre Füße gezwungen, ihre Ohren verlän-
gert; die Natur blieb auf ihrem Wege und wenn sie eine
Zeitlang folgen, wenn sie den verzerreten Gliedern Säfte zu-

führen

u. f. genau die Region, in welcher ſich die meiſten Veraͤnde-
rungen zeigen.

Endlich, da die Lebenskraft alle Theile zur Gemeinſchaft
bindet und die Organiſation ein vielverſchlungener Kreis iſt,
der eigentlich nirgend Anfang und Ende findet: ſo wird be-
greiflich, daß die innigſte Hauptveraͤnderung zuletzt auch in
den veſteſten Theilen
ſichtbar werden muͤſſe, die vermoͤge
der innern leidenden Kraft vom Schaͤdel bis zum Fuß in ein
andres Verhaͤltniß treten. Schwer gehet die Natur an dieſe
Verwandlung: auch bei Misgeburten, wo ſie in ihrem Kunſt-
werk gewaltſam geſtoͤrt wird, hat ſie wunderbare Wege der
Erſtattung, wie ein geſchlagner Feldherr eben im Ruͤckzuge
die meiſte Weisheit zeiget. Jndeſſen zeigen die verſchiednen
Bildungen der Voͤlker, daß auch dieſe, die ſchwerſte Ver-
wandlung beim Menſchengebilde moͤglich war: denn eben die
tauſendfache Zuſammenſetzung und feine Beweglichkeit unſrer
Maſchiene, ſammt den unnennbar-mannichfaltigen Maͤchten
die auf ſie wirken, machten ſie moͤglich. Aber auch dieſe
ſchwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket.
Jahrhunderte lang haben Nationen ihre Koͤpfe geformt, ihre
Naſen durchbort, ihre Fuͤße gezwungen, ihre Ohren verlaͤn-
gert; die Natur blieb auf ihrem Wege und wenn ſie eine
Zeitlang folgen, wenn ſie den verzerreten Gliedern Saͤfte zu-

fuͤhren
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0123" n="111"/>
u. f. genau die Region, in welcher &#x017F;ich die mei&#x017F;ten Vera&#x0364;nde-<lb/>
rungen zeigen.</p><lb/>
          <p>Endlich, da die Lebenskraft alle Theile zur Gemein&#x017F;chaft<lb/>
bindet und die Organi&#x017F;ation ein vielver&#x017F;chlungener Kreis i&#x017F;t,<lb/>
der eigentlich nirgend Anfang und Ende findet: &#x017F;o wird be-<lb/>
greiflich, daß die innig&#x017F;te Hauptvera&#x0364;nderung zuletzt <hi rendition="#fr">auch in<lb/>
den ve&#x017F;te&#x017F;ten Theilen</hi> &#x017F;ichtbar werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, die vermo&#x0364;ge<lb/>
der innern leidenden Kraft vom Scha&#x0364;del bis zum Fuß in ein<lb/>
andres Verha&#x0364;ltniß treten. Schwer gehet die Natur an die&#x017F;e<lb/>
Verwandlung: auch bei Misgeburten, wo &#x017F;ie in ihrem Kun&#x017F;t-<lb/>
werk gewalt&#x017F;am ge&#x017F;to&#x0364;rt wird, hat &#x017F;ie wunderbare Wege der<lb/>
Er&#x017F;tattung, wie ein ge&#x017F;chlagner Feldherr eben im Ru&#x0364;ckzuge<lb/>
die mei&#x017F;te Weisheit zeiget. Jnde&#x017F;&#x017F;en zeigen die ver&#x017F;chiednen<lb/>
Bildungen der Vo&#x0364;lker, daß auch die&#x017F;e, die &#x017F;chwer&#x017F;te Ver-<lb/>
wandlung beim Men&#x017F;chengebilde mo&#x0364;glich war: denn eben die<lb/>
tau&#x017F;endfache Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung und feine Beweglichkeit un&#x017F;rer<lb/>
Ma&#x017F;chiene, &#x017F;ammt den unnennbar-mannichfaltigen Ma&#x0364;chten<lb/>
die auf &#x017F;ie wirken, machten &#x017F;ie mo&#x0364;glich. Aber auch die&#x017F;e<lb/>
&#x017F;chwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket.<lb/>
Jahrhunderte lang haben Nationen ihre Ko&#x0364;pfe geformt, ihre<lb/>
Na&#x017F;en durchbort, ihre Fu&#x0364;ße gezwungen, ihre Ohren verla&#x0364;n-<lb/>
gert; die Natur blieb auf ihrem Wege und wenn &#x017F;ie eine<lb/>
Zeitlang folgen, wenn &#x017F;ie den verzerreten Gliedern Sa&#x0364;fte zu-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fu&#x0364;hren</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0123] u. f. genau die Region, in welcher ſich die meiſten Veraͤnde- rungen zeigen. Endlich, da die Lebenskraft alle Theile zur Gemeinſchaft bindet und die Organiſation ein vielverſchlungener Kreis iſt, der eigentlich nirgend Anfang und Ende findet: ſo wird be- greiflich, daß die innigſte Hauptveraͤnderung zuletzt auch in den veſteſten Theilen ſichtbar werden muͤſſe, die vermoͤge der innern leidenden Kraft vom Schaͤdel bis zum Fuß in ein andres Verhaͤltniß treten. Schwer gehet die Natur an dieſe Verwandlung: auch bei Misgeburten, wo ſie in ihrem Kunſt- werk gewaltſam geſtoͤrt wird, hat ſie wunderbare Wege der Erſtattung, wie ein geſchlagner Feldherr eben im Ruͤckzuge die meiſte Weisheit zeiget. Jndeſſen zeigen die verſchiednen Bildungen der Voͤlker, daß auch dieſe, die ſchwerſte Ver- wandlung beim Menſchengebilde moͤglich war: denn eben die tauſendfache Zuſammenſetzung und feine Beweglichkeit unſrer Maſchiene, ſammt den unnennbar-mannichfaltigen Maͤchten die auf ſie wirken, machten ſie moͤglich. Aber auch dieſe ſchwere Verwandlung ward nur von innen heraus bewirket. Jahrhunderte lang haben Nationen ihre Koͤpfe geformt, ihre Naſen durchbort, ihre Fuͤße gezwungen, ihre Ohren verlaͤn- gert; die Natur blieb auf ihrem Wege und wenn ſie eine Zeitlang folgen, wenn ſie den verzerreten Gliedern Saͤfte zu- fuͤhren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/123
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/123>, abgerufen am 02.05.2024.