Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz zu Boden sinket und sich das wenige Brennbare in ihm
zur Seele der Natur auflöset. -- Jsts mit dem Menschen,
als Pflanze betrachtet, anders? Welche Unermeßlichkeit von
Hoffnungen, Aussichten, Wirkungstrieben füllt dunkel oder
lebhaft seine jugendliche Seele! Alles trauet er sich zu; und
eben weil ers sich zutrauet, gelingts ihm: denn das Glück
ist die Braut der Jugend. Wenige Jahre weiter; und es
verändert sich alles um ihn, blos weil Er sich verändert.
Das wenigste hat er ausgerichtet, was er ausrichten wollte,
und glücklich, wenn er es nicht mehr und jetzt zu unrechter
Zeit ausrichten will, sondern sich friedlich selbst verlebet. Jm
Auge eines höhern Wesens mögen unsre Wirkungen auf der
Erde so wichtig, wenigstens gewiß so bestimmt und umschrie-
ben seyn, als die Thaten und Unternehmungen eines Baums.
Er entwickelt was er entwickeln kann und macht sich, dessen
er habhaft werden mag, Meister. Er treibt Sprossen und
Keime, gebiert Früchte und säet junge Bäume; niemals
aber kommt er von der Stelle, auf die ihn die Natur gestellt
hat, und er kann sich keine einzige der Kräfte, die nicht in
ihn gelegt sind, nehmen.

Jnsonderheit, dünkt mich, demüthiget es den Men-
schen, daß er mit den süssen Trieben, die er Liebe nennt, und
in die er so viel Willkühr setzt, beinah ebenso blind wie die


Pflanze,

ganz zu Boden ſinket und ſich das wenige Brennbare in ihm
zur Seele der Natur aufloͤſet. — Jſts mit dem Menſchen,
als Pflanze betrachtet, anders? Welche Unermeßlichkeit von
Hoffnungen, Ausſichten, Wirkungstrieben fuͤllt dunkel oder
lebhaft ſeine jugendliche Seele! Alles trauet er ſich zu; und
eben weil ers ſich zutrauet, gelingts ihm: denn das Gluͤck
iſt die Braut der Jugend. Wenige Jahre weiter; und es
veraͤndert ſich alles um ihn, blos weil Er ſich veraͤndert.
Das wenigſte hat er ausgerichtet, was er ausrichten wollte,
und gluͤcklich, wenn er es nicht mehr und jetzt zu unrechter
Zeit ausrichten will, ſondern ſich friedlich ſelbſt verlebet. Jm
Auge eines hoͤhern Weſens moͤgen unſre Wirkungen auf der
Erde ſo wichtig, wenigſtens gewiß ſo beſtimmt und umſchrie-
ben ſeyn, als die Thaten und Unternehmungen eines Baums.
Er entwickelt was er entwickeln kann und macht ſich, deſſen
er habhaft werden mag, Meiſter. Er treibt Sproſſen und
Keime, gebiert Fruͤchte und ſaͤet junge Baͤume; niemals
aber kommt er von der Stelle, auf die ihn die Natur geſtellt
hat, und er kann ſich keine einzige der Kraͤfte, die nicht in
ihn gelegt ſind, nehmen.

Jnſonderheit, duͤnkt mich, demuͤthiget es den Men-
ſchen, daß er mit den ſuͤſſen Trieben, die er Liebe nennt, und
in die er ſo viel Willkuͤhr ſetzt, beinah ebenſo blind wie die


Pflanze,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0090" n="68"/>
ganz zu Boden &#x017F;inket und &#x017F;ich das wenige Brennbare in ihm<lb/>
zur Seele der Natur auflo&#x0364;&#x017F;et. &#x2014; J&#x017F;ts mit dem Men&#x017F;chen,<lb/>
als Pflanze betrachtet, anders? Welche Unermeßlichkeit von<lb/>
Hoffnungen, Aus&#x017F;ichten, Wirkungstrieben fu&#x0364;llt dunkel oder<lb/>
lebhaft &#x017F;eine jugendliche Seele! Alles trauet er &#x017F;ich zu; und<lb/>
eben weil ers &#x017F;ich zutrauet, gelingts ihm: denn das Glu&#x0364;ck<lb/>
i&#x017F;t die Braut der Jugend. Wenige Jahre weiter; und es<lb/>
vera&#x0364;ndert &#x017F;ich alles um ihn, blos weil Er &#x017F;ich vera&#x0364;ndert.<lb/>
Das wenig&#x017F;te hat er ausgerichtet, was er ausrichten wollte,<lb/>
und glu&#x0364;cklich, wenn er es nicht mehr und jetzt zu unrechter<lb/>
Zeit ausrichten will, &#x017F;ondern &#x017F;ich friedlich &#x017F;elb&#x017F;t verlebet. Jm<lb/>
Auge eines ho&#x0364;hern We&#x017F;ens mo&#x0364;gen un&#x017F;re Wirkungen auf der<lb/>
Erde &#x017F;o wichtig, wenig&#x017F;tens gewiß &#x017F;o be&#x017F;timmt und um&#x017F;chrie-<lb/>
ben &#x017F;eyn, als die Thaten und Unternehmungen eines Baums.<lb/>
Er entwickelt was er entwickeln kann und macht &#x017F;ich, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
er habhaft werden mag, Mei&#x017F;ter. Er treibt Spro&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
Keime, gebiert Fru&#x0364;chte und &#x017F;a&#x0364;et junge Ba&#x0364;ume; niemals<lb/>
aber kommt er von der Stelle, auf die ihn die Natur ge&#x017F;tellt<lb/>
hat, und er kann &#x017F;ich keine einzige der Kra&#x0364;fte, die nicht in<lb/>
ihn gelegt &#x017F;ind, nehmen.</p><lb/>
          <p>Jn&#x017F;onderheit, du&#x0364;nkt mich, demu&#x0364;thiget es den Men-<lb/>
&#x017F;chen, daß er mit den &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Trieben, die er Liebe nennt, und<lb/>
in die er &#x017F;o viel Willku&#x0364;hr &#x017F;etzt, beinah eben&#x017F;o blind wie die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Pflanze,</fw></p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0090] ganz zu Boden ſinket und ſich das wenige Brennbare in ihm zur Seele der Natur aufloͤſet. — Jſts mit dem Menſchen, als Pflanze betrachtet, anders? Welche Unermeßlichkeit von Hoffnungen, Ausſichten, Wirkungstrieben fuͤllt dunkel oder lebhaft ſeine jugendliche Seele! Alles trauet er ſich zu; und eben weil ers ſich zutrauet, gelingts ihm: denn das Gluͤck iſt die Braut der Jugend. Wenige Jahre weiter; und es veraͤndert ſich alles um ihn, blos weil Er ſich veraͤndert. Das wenigſte hat er ausgerichtet, was er ausrichten wollte, und gluͤcklich, wenn er es nicht mehr und jetzt zu unrechter Zeit ausrichten will, ſondern ſich friedlich ſelbſt verlebet. Jm Auge eines hoͤhern Weſens moͤgen unſre Wirkungen auf der Erde ſo wichtig, wenigſtens gewiß ſo beſtimmt und umſchrie- ben ſeyn, als die Thaten und Unternehmungen eines Baums. Er entwickelt was er entwickeln kann und macht ſich, deſſen er habhaft werden mag, Meiſter. Er treibt Sproſſen und Keime, gebiert Fruͤchte und ſaͤet junge Baͤume; niemals aber kommt er von der Stelle, auf die ihn die Natur geſtellt hat, und er kann ſich keine einzige der Kraͤfte, die nicht in ihn gelegt ſind, nehmen. Jnſonderheit, duͤnkt mich, demuͤthiget es den Men- ſchen, daß er mit den ſuͤſſen Trieben, die er Liebe nennt, und in die er ſo viel Willkuͤhr ſetzt, beinah ebenſo blind wie die Pflanze,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/90
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/90>, abgerufen am 24.11.2024.