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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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seyn? von welchen Eltern er entsprießen? auf welchem Bo-
den er dürftig oder üppig fortkommen? durch welchen Zu-
fall endlich von innen oder von außen er untergehen wolle?
Jn alle diesem muß der Mensch höhern Gesetzen folgen,
über die Er so wenig als die Pflanze Aufschluß erhält, ja de-
nen er beinah wider Willen mit seinen stärksten Trieben die-
net. So lange der Mensch wächst und der Saft in ihm grü-
net: wie weit und frölich dünkt ihm die Welt! Er streckt
seine Aeste umher und glaubt zum Himmel zu wachsen.
So lockt die Natur ihn ins Leben hinein, bis er sich mit ra-
schen Kräften, mit unermüdeter Thätigkeit alle die Fertigkei-
ten erwarb, die sie auf dem Felde oder Gartenbeet, auf den
sie ihn gesetzt hat, diesmal an ihm ausbilden wollte. Nach-
dem er ihre Zwecke erreicht hat, verläßt sie ihn allmählich.
Jn der Blütenzeit des Frühlings und unsrer Jugend, mit
welchen Reichthümern ist allenthalben die Natur beladen!
man glaubt, sie wolle mit dieser Blumenwelt eine neue
Schöpfung besaamen. Einige Monate nachher, wie ist al-
les so anders! Die meisten Blüten sind abgefallen; wenige
dürre Früchte gedeihen. Mit Mühe und Arbeit des Bau-
mes reifen sie; und sogleich gehen die Blätter ans Verwel-
ken. Der Baum schüttet sein mattes Haar den geliebten
Kindern, die ihn verlassen haben, nach: entblättert steht er
da; der Sturm raubt ihm seine dürren Aeste, bis er endlich

ganz
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ſeyn? von welchen Eltern er entſprießen? auf welchem Bo-
den er duͤrftig oder uͤppig fortkommen? durch welchen Zu-
fall endlich von innen oder von außen er untergehen wolle?
Jn alle dieſem muß der Menſch hoͤhern Geſetzen folgen,
uͤber die Er ſo wenig als die Pflanze Aufſchluß erhaͤlt, ja de-
nen er beinah wider Willen mit ſeinen ſtaͤrkſten Trieben die-
net. So lange der Menſch waͤchſt und der Saft in ihm gruͤ-
net: wie weit und froͤlich duͤnkt ihm die Welt! Er ſtreckt
ſeine Aeſte umher und glaubt zum Himmel zu wachſen.
So lockt die Natur ihn ins Leben hinein, bis er ſich mit ra-
ſchen Kraͤften, mit unermuͤdeter Thaͤtigkeit alle die Fertigkei-
ten erwarb, die ſie auf dem Felde oder Gartenbeet, auf den
ſie ihn geſetzt hat, diesmal an ihm ausbilden wollte. Nach-
dem er ihre Zwecke erreicht hat, verlaͤßt ſie ihn allmaͤhlich.
Jn der Bluͤtenzeit des Fruͤhlings und unſrer Jugend, mit
welchen Reichthuͤmern iſt allenthalben die Natur beladen!
man glaubt, ſie wolle mit dieſer Blumenwelt eine neue
Schoͤpfung beſaamen. Einige Monate nachher, wie iſt al-
les ſo anders! Die meiſten Bluͤten ſind abgefallen; wenige
duͤrre Fruͤchte gedeihen. Mit Muͤhe und Arbeit des Bau-
mes reifen ſie; und ſogleich gehen die Blaͤtter ans Verwel-
ken. Der Baum ſchuͤttet ſein mattes Haar den geliebten
Kindern, die ihn verlaſſen haben, nach: entblaͤttert ſteht er
da; der Sturm raubt ihm ſeine duͤrren Aeſte, bis er endlich

ganz
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[67/0089] ſeyn? von welchen Eltern er entſprießen? auf welchem Bo- den er duͤrftig oder uͤppig fortkommen? durch welchen Zu- fall endlich von innen oder von außen er untergehen wolle? Jn alle dieſem muß der Menſch hoͤhern Geſetzen folgen, uͤber die Er ſo wenig als die Pflanze Aufſchluß erhaͤlt, ja de- nen er beinah wider Willen mit ſeinen ſtaͤrkſten Trieben die- net. So lange der Menſch waͤchſt und der Saft in ihm gruͤ- net: wie weit und froͤlich duͤnkt ihm die Welt! Er ſtreckt ſeine Aeſte umher und glaubt zum Himmel zu wachſen. So lockt die Natur ihn ins Leben hinein, bis er ſich mit ra- ſchen Kraͤften, mit unermuͤdeter Thaͤtigkeit alle die Fertigkei- ten erwarb, die ſie auf dem Felde oder Gartenbeet, auf den ſie ihn geſetzt hat, diesmal an ihm ausbilden wollte. Nach- dem er ihre Zwecke erreicht hat, verlaͤßt ſie ihn allmaͤhlich. Jn der Bluͤtenzeit des Fruͤhlings und unſrer Jugend, mit welchen Reichthuͤmern iſt allenthalben die Natur beladen! man glaubt, ſie wolle mit dieſer Blumenwelt eine neue Schoͤpfung beſaamen. Einige Monate nachher, wie iſt al- les ſo anders! Die meiſten Bluͤten ſind abgefallen; wenige duͤrre Fruͤchte gedeihen. Mit Muͤhe und Arbeit des Bau- mes reifen ſie; und ſogleich gehen die Blaͤtter ans Verwel- ken. Der Baum ſchuͤttet ſein mattes Haar den geliebten Kindern, die ihn verlaſſen haben, nach: entblaͤttert ſteht er da; der Sturm raubt ihm ſeine duͤrren Aeſte, bis er endlich ganz J 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/89>, abgerufen am 24.11.2024.