Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

auf ihr die Köpfe, wie die Climaten; Sitten und Religio-
nen, wie die Herzen und Kleider. Es ist eine unsägliche
Weisheit darinn, nicht, daß alles so vielfach; sondern daß
auf der runden Erde alles noch so ziemlich unison geschaffen
und gestimmt ist. Jn diesem Gesetz: viel mit Einem zu
thun und die größeste Mannichfaltigkeit an ein zwangloses
Einerlei zu knüpfen, liegt eben der Apfel der Schönheit.

Ein sanftes Gewicht knüpfte die Natur an unsern Fuß,
um uns diese Einheit und Stetigkeit zu geben: es heißt in
der Körperwelt Schwere, in der Geisterwelt Trägheit. Wie
alles zum Mittelpunkt drängt und nichts von der Erde hin-
weg kann, ohne daß es je von unserm Willen abhange: ob
wir darauf leben und sterben wollen? so ziehet die Natur
auch unsern Geist von Kindheit auf mit starken Fesseln, je-
den an sein Eigenthum, d. i. an seine Erde: (denn was
hätten wir endlich anders zum Eigenthum als diese?) Je-
der liebet sein Land, seine Sitten, seine Sprache, sein
Weib, seine Kinder, nicht weil sie die besten auf der Welt,
sondern weil sie die bewährten Seinigen sind und er in ih-
nen sich und seine Mühe selbst liebet. So gewöhnet sich je-
der auch an die schlechteste Speise, an die härteste Lebens-
art, an die roheste Sitte des rauhesten Klima und findet zu-
letzt in ihm Behaglichkeit und Ruhe. Selbst die Zugvögel

nisten

auf ihr die Koͤpfe, wie die Climaten; Sitten und Religio-
nen, wie die Herzen und Kleider. Es iſt eine unſaͤgliche
Weisheit darinn, nicht, daß alles ſo vielfach; ſondern daß
auf der runden Erde alles noch ſo ziemlich uniſon geſchaffen
und geſtimmt iſt. Jn dieſem Geſetz: viel mit Einem zu
thun und die groͤßeſte Mannichfaltigkeit an ein zwangloſes
Einerlei zu knuͤpfen, liegt eben der Apfel der Schoͤnheit.

Ein ſanftes Gewicht knuͤpfte die Natur an unſern Fuß,
um uns dieſe Einheit und Stetigkeit zu geben: es heißt in
der Koͤrperwelt Schwere, in der Geiſterwelt Traͤgheit. Wie
alles zum Mittelpunkt draͤngt und nichts von der Erde hin-
weg kann, ohne daß es je von unſerm Willen abhange: ob
wir darauf leben und ſterben wollen? ſo ziehet die Natur
auch unſern Geiſt von Kindheit auf mit ſtarken Feſſeln, je-
den an ſein Eigenthum, d. i. an ſeine Erde: (denn was
haͤtten wir endlich anders zum Eigenthum als dieſe?) Je-
der liebet ſein Land, ſeine Sitten, ſeine Sprache, ſein
Weib, ſeine Kinder, nicht weil ſie die beſten auf der Welt,
ſondern weil ſie die bewaͤhrten Seinigen ſind und er in ih-
nen ſich und ſeine Muͤhe ſelbſt liebet. So gewoͤhnet ſich je-
der auch an die ſchlechteſte Speiſe, an die haͤrteſte Lebens-
art, an die roheſte Sitte des rauheſten Klima und findet zu-
letzt in ihm Behaglichkeit und Ruhe. Selbſt die Zugvoͤgel

niſten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0046" n="24"/>
auf ihr die Ko&#x0364;pfe, wie die Climaten; Sitten und Religio-<lb/>
nen, wie die Herzen und Kleider. Es i&#x017F;t eine un&#x017F;a&#x0364;gliche<lb/>
Weisheit darinn, nicht, daß alles &#x017F;o vielfach; &#x017F;ondern daß<lb/>
auf der runden Erde alles noch &#x017F;o ziemlich uni&#x017F;on ge&#x017F;chaffen<lb/>
und ge&#x017F;timmt i&#x017F;t. Jn die&#x017F;em Ge&#x017F;etz: viel mit Einem zu<lb/>
thun und die gro&#x0364;ße&#x017F;te Mannichfaltigkeit an ein zwanglo&#x017F;es<lb/>
Einerlei zu knu&#x0364;pfen, liegt eben der Apfel der Scho&#x0364;nheit.</p><lb/>
          <p>Ein &#x017F;anftes Gewicht knu&#x0364;pfte die Natur an un&#x017F;ern Fuß,<lb/>
um uns die&#x017F;e Einheit und Stetigkeit zu geben: es heißt in<lb/>
der Ko&#x0364;rperwelt Schwere, in der Gei&#x017F;terwelt Tra&#x0364;gheit. Wie<lb/>
alles zum Mittelpunkt dra&#x0364;ngt und nichts von der Erde hin-<lb/>
weg kann, ohne daß es je von un&#x017F;erm Willen abhange: ob<lb/>
wir darauf leben und &#x017F;terben wollen? &#x017F;o ziehet die Natur<lb/>
auch un&#x017F;ern Gei&#x017F;t von Kindheit auf mit &#x017F;tarken Fe&#x017F;&#x017F;eln, je-<lb/>
den an &#x017F;ein Eigenthum, d. i. an &#x017F;eine Erde: (denn was<lb/>
ha&#x0364;tten wir endlich anders zum Eigenthum als die&#x017F;e?) Je-<lb/>
der liebet &#x017F;ein Land, &#x017F;eine Sitten, &#x017F;eine Sprache, &#x017F;ein<lb/>
Weib, &#x017F;eine Kinder, nicht weil &#x017F;ie die be&#x017F;ten auf der Welt,<lb/>
&#x017F;ondern weil &#x017F;ie die bewa&#x0364;hrten Seinigen &#x017F;ind und er in ih-<lb/>
nen &#x017F;ich und &#x017F;eine Mu&#x0364;he &#x017F;elb&#x017F;t liebet. So gewo&#x0364;hnet &#x017F;ich je-<lb/>
der auch an die &#x017F;chlechte&#x017F;te Spei&#x017F;e, an die ha&#x0364;rte&#x017F;te Lebens-<lb/>
art, an die rohe&#x017F;te Sitte des rauhe&#x017F;ten Klima und findet zu-<lb/>
letzt in ihm Behaglichkeit und Ruhe. Selb&#x017F;t die Zugvo&#x0364;gel<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ni&#x017F;ten</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0046] auf ihr die Koͤpfe, wie die Climaten; Sitten und Religio- nen, wie die Herzen und Kleider. Es iſt eine unſaͤgliche Weisheit darinn, nicht, daß alles ſo vielfach; ſondern daß auf der runden Erde alles noch ſo ziemlich uniſon geſchaffen und geſtimmt iſt. Jn dieſem Geſetz: viel mit Einem zu thun und die groͤßeſte Mannichfaltigkeit an ein zwangloſes Einerlei zu knuͤpfen, liegt eben der Apfel der Schoͤnheit. Ein ſanftes Gewicht knuͤpfte die Natur an unſern Fuß, um uns dieſe Einheit und Stetigkeit zu geben: es heißt in der Koͤrperwelt Schwere, in der Geiſterwelt Traͤgheit. Wie alles zum Mittelpunkt draͤngt und nichts von der Erde hin- weg kann, ohne daß es je von unſerm Willen abhange: ob wir darauf leben und ſterben wollen? ſo ziehet die Natur auch unſern Geiſt von Kindheit auf mit ſtarken Feſſeln, je- den an ſein Eigenthum, d. i. an ſeine Erde: (denn was haͤtten wir endlich anders zum Eigenthum als dieſe?) Je- der liebet ſein Land, ſeine Sitten, ſeine Sprache, ſein Weib, ſeine Kinder, nicht weil ſie die beſten auf der Welt, ſondern weil ſie die bewaͤhrten Seinigen ſind und er in ih- nen ſich und ſeine Muͤhe ſelbſt liebet. So gewoͤhnet ſich je- der auch an die ſchlechteſte Speiſe, an die haͤrteſte Lebens- art, an die roheſte Sitte des rauheſten Klima und findet zu- letzt in ihm Behaglichkeit und Ruhe. Selbſt die Zugvoͤgel niſten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/46
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/46>, abgerufen am 25.11.2024.