Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

ten. Der gewöhnliche Mensch auf dem Gange seines Le-
bens wird von Eindrücken entfernt, deren ein einziger den
ganzen Kreis seiner Jdeen zerrütten und ihn für diese Welt
unbrauchbar machen würde. Kein nachahmender Affe höhe-
rer Wesen sollte der zur Freihet erschaffene Mensch seyn:
sondern auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn ste-
hen, daß er selbst handle. Zu seiner Beruhigung und zu
dem edlen Stolz, auf dem seine Bestimmung liegt, ward
ihm der Anblick edlerer Wesen entzogen: denn wahrschein-
lich würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese kennten.
Der Mensch also soll in seinen künftigen Zustand nicht hin-
einschauen, sondern sich hineinglauben.

5. So viel ist gewiß, daß in jeder seiner Kräfte eine
Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann,
weil sie von andern Kräften, von Sinnen und Trieben des
Thiers unterdrückt wird und zum Verhältniß des Erdelebens
gleichsam in Banden lieget. Einzelne Beispiele des Ge-
dächtnisses, der Einbildungskraft, ja gar der Vorhersagung
und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver-
borgenen Schatz, der in menschlichen Seelen ruhet; ja sogar
die Sinne sind davon nicht ausgeschlossen. Daß meistens
Krankheiten und gegenseitige Mängel diese Schätze zeigten,
ändert in der Natur der Sache nichts, da eben diese Dispro-

portion

ten. Der gewoͤhnliche Menſch auf dem Gange ſeines Le-
bens wird von Eindruͤcken entfernt, deren ein einziger den
ganzen Kreis ſeiner Jdeen zerruͤtten und ihn fuͤr dieſe Welt
unbrauchbar machen wuͤrde. Kein nachahmender Affe hoͤhe-
rer Weſen ſollte der zur Freihet erſchaffene Menſch ſeyn:
ſondern auch wo er geleitet wird, im gluͤcklichen Wahn ſte-
hen, daß er ſelbſt handle. Zu ſeiner Beruhigung und zu
dem edlen Stolz, auf dem ſeine Beſtimmung liegt, ward
ihm der Anblick edlerer Weſen entzogen: denn wahrſchein-
lich wuͤrden wir uns ſelbſt verachten, wenn wir dieſe kennten.
Der Menſch alſo ſoll in ſeinen kuͤnftigen Zuſtand nicht hin-
einſchauen, ſondern ſich hineinglauben.

5. So viel iſt gewiß, daß in jeder ſeiner Kraͤfte eine
Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann,
weil ſie von andern Kraͤften, von Sinnen und Trieben des
Thiers unterdruͤckt wird und zum Verhaͤltniß des Erdelebens
gleichſam in Banden lieget. Einzelne Beiſpiele des Ge-
daͤchtniſſes, der Einbildungskraft, ja gar der Vorherſagung
und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver-
borgenen Schatz, der in menſchlichen Seelen ruhet; ja ſogar
die Sinne ſind davon nicht ausgeſchloſſen. Daß meiſtens
Krankheiten und gegenſeitige Maͤngel dieſe Schaͤtze zeigten,
aͤndert in der Natur der Sache nichts, da eben dieſe Diſpro-

portion
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0317" n="315[295]"/>
ten. Der gewo&#x0364;hnliche Men&#x017F;ch auf dem Gange &#x017F;eines Le-<lb/>
bens wird von Eindru&#x0364;cken entfernt, deren ein einziger den<lb/>
ganzen Kreis &#x017F;einer Jdeen zerru&#x0364;tten und ihn fu&#x0364;r die&#x017F;e Welt<lb/>
unbrauchbar machen wu&#x0364;rde. Kein nachahmender Affe ho&#x0364;he-<lb/>
rer We&#x017F;en &#x017F;ollte der zur Freihet er&#x017F;chaffene Men&#x017F;ch &#x017F;eyn:<lb/>
&#x017F;ondern auch wo er geleitet wird, im glu&#x0364;cklichen Wahn &#x017F;te-<lb/>
hen, daß er &#x017F;elb&#x017F;t handle. Zu &#x017F;einer Beruhigung und zu<lb/>
dem edlen Stolz, auf dem &#x017F;eine Be&#x017F;timmung liegt, ward<lb/>
ihm der Anblick edlerer We&#x017F;en entzogen: denn wahr&#x017F;chein-<lb/>
lich wu&#x0364;rden wir uns &#x017F;elb&#x017F;t verachten, wenn wir die&#x017F;e kennten.<lb/>
Der Men&#x017F;ch al&#x017F;o &#x017F;oll in &#x017F;einen ku&#x0364;nftigen Zu&#x017F;tand nicht hin-<lb/>
ein&#x017F;chauen, &#x017F;ondern &#x017F;ich hineinglauben.</p><lb/>
          <p>5. So viel i&#x017F;t gewiß, daß in jeder &#x017F;einer Kra&#x0364;fte eine<lb/>
Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann,<lb/>
weil &#x017F;ie von andern Kra&#x0364;ften, von Sinnen und Trieben des<lb/>
Thiers unterdru&#x0364;ckt wird und zum Verha&#x0364;ltniß des Erdelebens<lb/>
gleich&#x017F;am in Banden lieget. Einzelne Bei&#x017F;piele des Ge-<lb/>
da&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;es, der Einbildungskraft, ja gar der Vorher&#x017F;agung<lb/>
und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver-<lb/>
borgenen Schatz, der in men&#x017F;chlichen Seelen ruhet; ja &#x017F;ogar<lb/>
die Sinne &#x017F;ind davon nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Daß mei&#x017F;tens<lb/>
Krankheiten und gegen&#x017F;eitige Ma&#x0364;ngel die&#x017F;e Scha&#x0364;tze zeigten,<lb/>
a&#x0364;ndert in der Natur der Sache nichts, da eben die&#x017F;e Di&#x017F;pro-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">portion</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315[295]/0317] ten. Der gewoͤhnliche Menſch auf dem Gange ſeines Le- bens wird von Eindruͤcken entfernt, deren ein einziger den ganzen Kreis ſeiner Jdeen zerruͤtten und ihn fuͤr dieſe Welt unbrauchbar machen wuͤrde. Kein nachahmender Affe hoͤhe- rer Weſen ſollte der zur Freihet erſchaffene Menſch ſeyn: ſondern auch wo er geleitet wird, im gluͤcklichen Wahn ſte- hen, daß er ſelbſt handle. Zu ſeiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz, auf dem ſeine Beſtimmung liegt, ward ihm der Anblick edlerer Weſen entzogen: denn wahrſchein- lich wuͤrden wir uns ſelbſt verachten, wenn wir dieſe kennten. Der Menſch alſo ſoll in ſeinen kuͤnftigen Zuſtand nicht hin- einſchauen, ſondern ſich hineinglauben. 5. So viel iſt gewiß, daß in jeder ſeiner Kraͤfte eine Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann, weil ſie von andern Kraͤften, von Sinnen und Trieben des Thiers unterdruͤckt wird und zum Verhaͤltniß des Erdelebens gleichſam in Banden lieget. Einzelne Beiſpiele des Ge- daͤchtniſſes, der Einbildungskraft, ja gar der Vorherſagung und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt, von dem ver- borgenen Schatz, der in menſchlichen Seelen ruhet; ja ſogar die Sinne ſind davon nicht ausgeſchloſſen. Daß meiſtens Krankheiten und gegenſeitige Maͤngel dieſe Schaͤtze zeigten, aͤndert in der Natur der Sache nichts, da eben dieſe Diſpro- portion

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/317
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 315[295]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/317>, abgerufen am 23.11.2024.