digen menschlichen Gesellschaft, ohne die kein Mensch auf- wachsen, keine Mehrheit von Menschen seyn könnte. Der Mensch ist also zur Gesellschaft gebohren; das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre sei- ner langen Kindheit.
5. Da aber das bloße Mitgefühl des Menschen sich nicht über alles verbreiten und bei ihm als einem eingeschränk- ten, vielorganisirten Wesen in allem was fern von ihm lag, nur ein dunkler, oft unkräftiger Führer seyn konnte: so hatte die richtig-leitende Mutter seine vielfachen und leise verweb- ten Aeste unter seine untrüglichere Richtschnur zusammengeord- net; dies ist die Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit. Aufrichtig ist der Mensch geschaffen und wie in seiner Ge- stalt alles dem Haupt dienet, wie seine zwei Augen nur Eine Sache sehen, seine zwei Ohren nur Einen Schall hören; wie die Natur im ganzen Aeussern der Bekleidung überall Symmetrie mit Einheit verband und die Einheit in die Mitte setzte, daß das Zwiefache allenthalben nur auf sie weise: so wurde auch im Jnnern das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts des Menschen Richtschnur: was du willt, daß andre dir nicht thun sollen, thue ihnen auch nicht; was jene dir thun sollen, thue du auch ihnen, Diese unwidersprechliche Regel ist auch in die Brust des Un-
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digen menſchlichen Geſellſchaft, ohne die kein Menſch auf- wachſen, keine Mehrheit von Menſchen ſeyn koͤnnte. Der Menſch iſt alſo zur Geſellſchaft gebohren; das ſagt ihm das Mitgefuͤhl ſeiner Eltern, das ſagen ihm die Jahre ſei- ner langen Kindheit.
5. Da aber das bloße Mitgefuͤhl des Menſchen ſich nicht uͤber alles verbreiten und bei ihm als einem eingeſchraͤnk- ten, vielorganiſirten Weſen in allem was fern von ihm lag, nur ein dunkler, oft unkraͤftiger Fuͤhrer ſeyn konnte: ſo hatte die richtig-leitende Mutter ſeine vielfachen und leiſe verweb- ten Aeſte unter ſeine untruͤglichere Richtſchnur zuſammengeord- net; dies iſt die Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit. Aufrichtig iſt der Menſch geſchaffen und wie in ſeiner Ge- ſtalt alles dem Haupt dienet, wie ſeine zwei Augen nur Eine Sache ſehen, ſeine zwei Ohren nur Einen Schall hoͤren; wie die Natur im ganzen Aeuſſern der Bekleidung uͤberall Symmetrie mit Einheit verband und die Einheit in die Mitte ſetzte, daß das Zwiefache allenthalben nur auf ſie weiſe: ſo wurde auch im Jnnern das große Geſetz der Billigkeit und des Gleichgewichts des Menſchen Richtſchnur: was du willt, daß andre dir nicht thun ſollen, thue ihnen auch nicht; was jene dir thun ſollen, thue du auch ihnen, Dieſe unwiderſprechliche Regel iſt auch in die Bruſt des Un-
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digen menſchlichen Geſellſchaft, ohne die kein Menſch auf-
wachſen, keine Mehrheit von Menſchen ſeyn koͤnnte. Der
Menſch iſt alſo zur Geſellſchaft gebohren; das ſagt ihm
das Mitgefuͤhl ſeiner Eltern, das ſagen ihm die Jahre ſei-
ner langen Kindheit.
5. Da aber das bloße Mitgefuͤhl des Menſchen ſich
nicht uͤber alles verbreiten und bei ihm als einem eingeſchraͤnk-
ten, vielorganiſirten Weſen in allem was fern von ihm lag,
nur ein dunkler, oft unkraͤftiger Fuͤhrer ſeyn konnte: ſo hatte
die richtig-leitende Mutter ſeine vielfachen und leiſe verweb-
ten Aeſte unter ſeine untruͤglichere Richtſchnur zuſammengeord-
net; dies iſt die Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit.
Aufrichtig iſt der Menſch geſchaffen und wie in ſeiner Ge-
ſtalt alles dem Haupt dienet, wie ſeine zwei Augen nur Eine
Sache ſehen, ſeine zwei Ohren nur Einen Schall hoͤren;
wie die Natur im ganzen Aeuſſern der Bekleidung uͤberall
Symmetrie mit Einheit verband und die Einheit in die Mitte
ſetzte, daß das Zwiefache allenthalben nur auf ſie weiſe: ſo
wurde auch im Jnnern das große Geſetz der Billigkeit und
des Gleichgewichts des Menſchen Richtſchnur: was du
willt, daß andre dir nicht thun ſollen, thue ihnen auch
nicht; was jene dir thun ſollen, thue du auch ihnen,
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 252[232]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/254>, abgerufen am 23.11.2024.
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