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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Sonderbar ists, daß das Gehör so viel mehr als das
Gesicht beiträgt, dies Mitgefühl zu erwecken und zu verstär-
ken. Der Seufzer eines Thiers, das ausgestoßne Geschrei
seines leidenden Körpers zieht alle ihm ähnlichen herbei, die,
wie oft bemerkt ist, traurig um den Winselnden stehn und
ihm gern helfen möchten. Auch bei den Menschen erregt
das Gemälde des Schmerzes eher Schrecken und Grausen
als zärtliche Mitempfindung; sobald uns aber nur ein Ton
des Leidenden ruft, so verlieren wir die Fassung und eilen zu
ihm: es geht uns ein Stich durch die Seele. Jsts, weil
der Ton das Gemälde des Auges zum lebendigen Wesen
macht, also alle Erinnerungen eigner und fremder Gefühle
zurückbringt und auf Einen Punkt vereinet? Oder gibt es,
wie ich glaube, noch eine tiefere organische Ursache? Gnug,
die Erfahrung ist wahr und sie zeigt beim Menschen den
Grund seines größern Mitgefühls durch Stimme und
Sprache
. An dem was nicht seufzen kann, nehmen wir
weniger Theil, weil es ein Lungenloses, ein unvollkommene-
res Geschöpf ist, uns minder gleich organisiret. Einige
Taub- und Stummgebohrne haben entsetzliche Beispiele vom
Mangel des Mitgefühls und der Theilnehmung an Men-
schen und Thieren gegeben; und wir werden bei wilden Völ-
kerschaften noch Proben gnug davon bemerken. Jndessen
auch bei ihnen noch ist das Gesetz der Natur nicht unver-

kennbar.
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Sonderbar iſts, daß das Gehoͤr ſo viel mehr als das
Geſicht beitraͤgt, dies Mitgefuͤhl zu erwecken und zu verſtaͤr-
ken. Der Seufzer eines Thiers, das ausgeſtoßne Geſchrei
ſeines leidenden Koͤrpers zieht alle ihm aͤhnlichen herbei, die,
wie oft bemerkt iſt, traurig um den Winſelnden ſtehn und
ihm gern helfen moͤchten. Auch bei den Menſchen erregt
das Gemaͤlde des Schmerzes eher Schrecken und Grauſen
als zaͤrtliche Mitempfindung; ſobald uns aber nur ein Ton
des Leidenden ruft, ſo verlieren wir die Faſſung und eilen zu
ihm: es geht uns ein Stich durch die Seele. Jſts, weil
der Ton das Gemaͤlde des Auges zum lebendigen Weſen
macht, alſo alle Erinnerungen eigner und fremder Gefuͤhle
zuruͤckbringt und auf Einen Punkt vereinet? Oder gibt es,
wie ich glaube, noch eine tiefere organiſche Urſache? Gnug,
die Erfahrung iſt wahr und ſie zeigt beim Menſchen den
Grund ſeines groͤßern Mitgefuͤhls durch Stimme und
Sprache
. An dem was nicht ſeufzen kann, nehmen wir
weniger Theil, weil es ein Lungenloſes, ein unvollkommene-
res Geſchoͤpf iſt, uns minder gleich organiſiret. Einige
Taub- und Stummgebohrne haben entſetzliche Beiſpiele vom
Mangel des Mitgefuͤhls und der Theilnehmung an Men-
ſchen und Thieren gegeben; und wir werden bei wilden Voͤl-
kerſchaften noch Proben gnug davon bemerken. Jndeſſen
auch bei ihnen noch iſt das Geſetz der Natur nicht unver-

kennbar.
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[249[229]/0251] Sonderbar iſts, daß das Gehoͤr ſo viel mehr als das Geſicht beitraͤgt, dies Mitgefuͤhl zu erwecken und zu verſtaͤr- ken. Der Seufzer eines Thiers, das ausgeſtoßne Geſchrei ſeines leidenden Koͤrpers zieht alle ihm aͤhnlichen herbei, die, wie oft bemerkt iſt, traurig um den Winſelnden ſtehn und ihm gern helfen moͤchten. Auch bei den Menſchen erregt das Gemaͤlde des Schmerzes eher Schrecken und Grauſen als zaͤrtliche Mitempfindung; ſobald uns aber nur ein Ton des Leidenden ruft, ſo verlieren wir die Faſſung und eilen zu ihm: es geht uns ein Stich durch die Seele. Jſts, weil der Ton das Gemaͤlde des Auges zum lebendigen Weſen macht, alſo alle Erinnerungen eigner und fremder Gefuͤhle zuruͤckbringt und auf Einen Punkt vereinet? Oder gibt es, wie ich glaube, noch eine tiefere organiſche Urſache? Gnug, die Erfahrung iſt wahr und ſie zeigt beim Menſchen den Grund ſeines groͤßern Mitgefuͤhls durch Stimme und Sprache. An dem was nicht ſeufzen kann, nehmen wir weniger Theil, weil es ein Lungenloſes, ein unvollkommene- res Geſchoͤpf iſt, uns minder gleich organiſiret. Einige Taub- und Stummgebohrne haben entſetzliche Beiſpiele vom Mangel des Mitgefuͤhls und der Theilnehmung an Men- ſchen und Thieren gegeben; und wir werden bei wilden Voͤl- kerſchaften noch Proben gnug davon bemerken. Jndeſſen auch bei ihnen noch iſt das Geſetz der Natur nicht unver- kennbar. F f 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 249[229]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/251>, abgerufen am 23.11.2024.