3. Bei jungen Geschöpfen ist das Gehirn größer als bei Erwachsenen; offenbar weil es flüßiger und zarter ist, also auch einen größern Raum einnimmt, deßwegen aber kein größeres Gewicht gibt. Jn ihm ist noch der Vorrath jener zarten Befeuchtung zu allen Lebensverrichtungen und innern Wirkungen, durch welche das Geschöpf sich in seinen jüngern Jahren Fertigkeiten bilden und also viel aufwenden soll. Mit den Jahren wird es trockner und fester: denn die Fer- tigkeiten sind gebildet da und der Mensch sowohl als das Thier ist nicht mehr so leichter, so anmuthiger, so flüchtiger Eindrücke fähig. Kurz, die Größe des Gehirns bei einem Geschöpf scheint eine nothwendige Mitbedingung; nicht aber die einzige, nicht die erste Bedingung zu seyn, zu seiner grös- sern Fähigkeit und Verstandesübung. Unter allen Thieren hat der Mensch, wie schon die Alten wußten, verhältnißmäs- sig das größeste Gehirn, worinn ihm aber der Affe nichts nachgibt: ja das Pferd wird hierinn übertroffen vom Esel.
Also muß etwas anders hinzukommen, das die feinere Denkungskraft des Geschöpfs physiologisch fördert; und was könnte dies, nach dem Stufengange von Organisationen, den uns die Natur vors Auge gelegt hat, anders seyn, als der Bau des Gehirns selbst, die vollkommenere Ausarbeitung
seiner
3. Bei jungen Geſchoͤpfen iſt das Gehirn groͤßer als bei Erwachſenen; offenbar weil es fluͤßiger und zarter iſt, alſo auch einen groͤßern Raum einnimmt, deßwegen aber kein groͤßeres Gewicht gibt. Jn ihm iſt noch der Vorrath jener zarten Befeuchtung zu allen Lebensverrichtungen und innern Wirkungen, durch welche das Geſchoͤpf ſich in ſeinen juͤngern Jahren Fertigkeiten bilden und alſo viel aufwenden ſoll. Mit den Jahren wird es trockner und feſter: denn die Fer- tigkeiten ſind gebildet da und der Menſch ſowohl als das Thier iſt nicht mehr ſo leichter, ſo anmuthiger, ſo fluͤchtiger Eindruͤcke faͤhig. Kurz, die Groͤße des Gehirns bei einem Geſchoͤpf ſcheint eine nothwendige Mitbedingung; nicht aber die einzige, nicht die erſte Bedingung zu ſeyn, zu ſeiner groͤſ- ſern Faͤhigkeit und Verſtandesuͤbung. Unter allen Thieren hat der Menſch, wie ſchon die Alten wußten, verhaͤltnißmaͤſ- ſig das groͤßeſte Gehirn, worinn ihm aber der Affe nichts nachgibt: ja das Pferd wird hierinn uͤbertroffen vom Eſel.
Alſo muß etwas anders hinzukommen, das die feinere Denkungskraft des Geſchoͤpfs phyſiologiſch foͤrdert; und was koͤnnte dies, nach dem Stufengange von Organiſationen, den uns die Natur vors Auge gelegt hat, anders ſeyn, als der Bau des Gehirns ſelbſt, die vollkommenere Ausarbeitung
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[194[174]/0196]
3. Bei jungen Geſchoͤpfen iſt das Gehirn groͤßer als
bei Erwachſenen; offenbar weil es fluͤßiger und zarter iſt,
alſo auch einen groͤßern Raum einnimmt, deßwegen aber kein
groͤßeres Gewicht gibt. Jn ihm iſt noch der Vorrath jener
zarten Befeuchtung zu allen Lebensverrichtungen und innern
Wirkungen, durch welche das Geſchoͤpf ſich in ſeinen juͤngern
Jahren Fertigkeiten bilden und alſo viel aufwenden ſoll.
Mit den Jahren wird es trockner und feſter: denn die Fer-
tigkeiten ſind gebildet da und der Menſch ſowohl als das
Thier iſt nicht mehr ſo leichter, ſo anmuthiger, ſo fluͤchtiger
Eindruͤcke faͤhig. Kurz, die Groͤße des Gehirns bei einem
Geſchoͤpf ſcheint eine nothwendige Mitbedingung; nicht aber
die einzige, nicht die erſte Bedingung zu ſeyn, zu ſeiner groͤſ-
ſern Faͤhigkeit und Verſtandesuͤbung. Unter allen Thieren
hat der Menſch, wie ſchon die Alten wußten, verhaͤltnißmaͤſ-
ſig das groͤßeſte Gehirn, worinn ihm aber der Affe nichts
nachgibt: ja das Pferd wird hierinn uͤbertroffen vom Eſel.
Alſo muß etwas anders hinzukommen, das die feinere
Denkungskraft des Geſchoͤpfs phyſiologiſch foͤrdert; und was
koͤnnte dies, nach dem Stufengange von Organiſationen, den
uns die Natur vors Auge gelegt hat, anders ſeyn, als der
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 194[174]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/196>, abgerufen am 23.11.2024.
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