chem alle Radien zusammen zu laufen scheinen. Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen er- schöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren, stand sie still und übersann ihre Werke; und als sie sah, daß bei ih- nen allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter Schöpfer fehlte: siehe da gieng sie mit sich zu Rath, drängte die Gestalten zusammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf die Hand und sprach: "steh auf von der Erde! Dir selbst überlassen, wä- rest du Thier wie andre Thiere; aber durch meine besondre Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Thiere." Lasset uns bei diesem heiligen Kunstwerk, der Wohlthat, durch die unser Geschlecht ein Menschengeschlecht ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung werden wir sehen, welche neue Organisation von Kräften in der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange und wie allein durch sie der Mensch ein Mensch ward.
Vier-
chem alle Radien zuſammen zu laufen ſcheinen. Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen er- ſchoͤpft hatte, die auf dieſer Erde moͤglich waren, ſtand ſie ſtill und uͤberſann ihre Werke; und als ſie ſah, daß bei ih- nen allen der Erde noch ihre vornehmſte Zierde, ihr Regent und zweiter Schoͤpfer fehlte: ſiehe da gieng ſie mit ſich zu Rath, draͤngte die Geſtalten zuſammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menſchliche Schoͤnheit. Muͤtterlich bot ſie ihrem letzten kuͤnſtlichen Geſchoͤpf die Hand und ſprach: „ſteh auf von der Erde! Dir ſelbſt uͤberlaſſen, waͤ- reſt du Thier wie andre Thiere; aber durch meine beſondre Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Thiere.„ Laſſet uns bei dieſem heiligen Kunſtwerk, der Wohlthat, durch die unſer Geſchlecht ein Menſchengeſchlecht ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung werden wir ſehen, welche neue Organiſation von Kraͤften in der aufrechten Geſtalt der Menſchheit anfange und wie allein durch ſie der Menſch ein Menſch ward.
Vier-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0182"n="180[160]"/>
chem alle Radien zuſammen zu laufen ſcheinen. Als die<lb/>
bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen er-<lb/>ſchoͤpft hatte, die auf dieſer Erde moͤglich waren, ſtand ſie<lb/>ſtill und uͤberſann ihre Werke; und als ſie ſah, daß bei ih-<lb/>
nen allen der Erde noch ihre vornehmſte Zierde, ihr Regent<lb/>
und zweiter Schoͤpfer fehlte: ſiehe da gieng ſie mit ſich zu<lb/>
Rath, draͤngte die Geſtalten zuſammen und formte aus allen<lb/>
ihr Hauptgebilde, die menſchliche Schoͤnheit. Muͤtterlich<lb/>
bot ſie ihrem letzten kuͤnſtlichen Geſchoͤpf die Hand und<lb/>ſprach: „ſteh auf von der Erde! Dir ſelbſt uͤberlaſſen, waͤ-<lb/>
reſt du Thier wie andre Thiere; aber durch meine beſondre<lb/>
Huld und Liebe <hirendition="#fr">gehe aufrecht</hi> und werde der Gott der<lb/>
Thiere.„ Laſſet uns bei dieſem heiligen Kunſtwerk, der<lb/>
Wohlthat, durch die unſer Geſchlecht ein Menſchengeſchlecht<lb/>
ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung<lb/>
werden wir ſehen, welche neue Organiſation von Kraͤften in<lb/>
der aufrechten Geſtalt der Menſchheit anfange und wie allein<lb/>
durch ſie der Menſch ein <hirendition="#fr">Menſch</hi> ward.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Vier-</fw><lb/></body></text></TEI>
[180[160]/0182]
chem alle Radien zuſammen zu laufen ſcheinen. Als die
bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen er-
ſchoͤpft hatte, die auf dieſer Erde moͤglich waren, ſtand ſie
ſtill und uͤberſann ihre Werke; und als ſie ſah, daß bei ih-
nen allen der Erde noch ihre vornehmſte Zierde, ihr Regent
und zweiter Schoͤpfer fehlte: ſiehe da gieng ſie mit ſich zu
Rath, draͤngte die Geſtalten zuſammen und formte aus allen
ihr Hauptgebilde, die menſchliche Schoͤnheit. Muͤtterlich
bot ſie ihrem letzten kuͤnſtlichen Geſchoͤpf die Hand und
ſprach: „ſteh auf von der Erde! Dir ſelbſt uͤberlaſſen, waͤ-
reſt du Thier wie andre Thiere; aber durch meine beſondre
Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der
Thiere.„ Laſſet uns bei dieſem heiligen Kunſtwerk, der
Wohlthat, durch die unſer Geſchlecht ein Menſchengeſchlecht
ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung
werden wir ſehen, welche neue Organiſation von Kraͤften in
der aufrechten Geſtalt der Menſchheit anfange und wie allein
durch ſie der Menſch ein Menſch ward.
Vier-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 180[160]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/182>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.