Ueber allen Ausdruck ist die wohlthätige Mutterliebe, mit der auf diese Weise die Natur jedes lebendige Geschöpf zu Thätigkeiten, Gedanken und Tugenden, der Fassung sei- ner Organisation gemäß, gleichsam erziehet und thätig ge- wöhnet. Sie dachte ihm vor, da sie diese Kräfte in solche und keine andre Organisation setzte und nöthigte das Ge- schöpf nun, in dieser Organisation zu sehen, zu begehren, zu handeln, wie sie ihm vorgedacht hatte und in den Schran- ken dieser Organisation Bedürfniß, Kräfte und Raum gab.
Keine Tugend, kein Trieb ist im menschlichen Herzen, von dem sich nicht hie und da ein Analogon in der Thierwelt fände und zu dem also die bildende Mutter das Thier orga- nisch gewöhnet. Es muß für sich sorgen, es muß die Sei- nigen lieben lernen: Noth und die Jahrszeit zwingen es zur Gesellschaft, wenn auch nur zur geselligen Reise. Dieses Geschöpf zwingt der Trieb zur Liebe, bei jenem macht das Bedürfniß gar Ehe, eine Art Republik, eine gesellige Ord- nung. Wie dunkel dies alles geschehe, wie kurz manches daure: so ist doch der Eindruck davon in der Natur des Thiers da und wir sehen er ist mächtig da, er kommt wieder, ja er ist in diesem Geschöpf unwidertreiblich, unauslöschlich. Je dunkler, desto inniger wirkt alles; je weniger Gedanken sie verbinden, je seltner sie Triebe üben, desto stärker sind die
Triebe,
Ueber allen Ausdruck iſt die wohlthaͤtige Mutterliebe, mit der auf dieſe Weiſe die Natur jedes lebendige Geſchoͤpf zu Thaͤtigkeiten, Gedanken und Tugenden, der Faſſung ſei- ner Organiſation gemaͤß, gleichſam erziehet und thaͤtig ge- woͤhnet. Sie dachte ihm vor, da ſie dieſe Kraͤfte in ſolche und keine andre Organiſation ſetzte und noͤthigte das Ge- ſchoͤpf nun, in dieſer Organiſation zu ſehen, zu begehren, zu handeln, wie ſie ihm vorgedacht hatte und in den Schran- ken dieſer Organiſation Beduͤrfniß, Kraͤfte und Raum gab.
Keine Tugend, kein Trieb iſt im menſchlichen Herzen, von dem ſich nicht hie und da ein Analogon in der Thierwelt faͤnde und zu dem alſo die bildende Mutter das Thier orga- niſch gewoͤhnet. Es muß fuͤr ſich ſorgen, es muß die Sei- nigen lieben lernen: Noth und die Jahrszeit zwingen es zur Geſellſchaft, wenn auch nur zur geſelligen Reiſe. Dieſes Geſchoͤpf zwingt der Trieb zur Liebe, bei jenem macht das Beduͤrfniß gar Ehe, eine Art Republik, eine geſellige Ord- nung. Wie dunkel dies alles geſchehe, wie kurz manches daure: ſo iſt doch der Eindruck davon in der Natur des Thiers da und wir ſehen er iſt maͤchtig da, er kommt wieder, ja er iſt in dieſem Geſchoͤpf unwidertreiblich, unausloͤſchlich. Je dunkler, deſto inniger wirkt alles; je weniger Gedanken ſie verbinden, je ſeltner ſie Triebe uͤben, deſto ſtaͤrker ſind die
Triebe,
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[170[150]/0172]
Ueber allen Ausdruck iſt die wohlthaͤtige Mutterliebe,
mit der auf dieſe Weiſe die Natur jedes lebendige Geſchoͤpf
zu Thaͤtigkeiten, Gedanken und Tugenden, der Faſſung ſei-
ner Organiſation gemaͤß, gleichſam erziehet und thaͤtig ge-
woͤhnet. Sie dachte ihm vor, da ſie dieſe Kraͤfte in ſolche
und keine andre Organiſation ſetzte und noͤthigte das Ge-
ſchoͤpf nun, in dieſer Organiſation zu ſehen, zu begehren, zu
handeln, wie ſie ihm vorgedacht hatte und in den Schran-
ken dieſer Organiſation Beduͤrfniß, Kraͤfte und Raum gab.
Keine Tugend, kein Trieb iſt im menſchlichen Herzen,
von dem ſich nicht hie und da ein Analogon in der Thierwelt
faͤnde und zu dem alſo die bildende Mutter das Thier orga-
niſch gewoͤhnet. Es muß fuͤr ſich ſorgen, es muß die Sei-
nigen lieben lernen: Noth und die Jahrszeit zwingen es zur
Geſellſchaft, wenn auch nur zur geſelligen Reiſe. Dieſes
Geſchoͤpf zwingt der Trieb zur Liebe, bei jenem macht das
Beduͤrfniß gar Ehe, eine Art Republik, eine geſellige Ord-
nung. Wie dunkel dies alles geſchehe, wie kurz manches
daure: ſo iſt doch der Eindruck davon in der Natur des
Thiers da und wir ſehen er iſt maͤchtig da, er kommt wieder,
ja er iſt in dieſem Geſchoͤpf unwidertreiblich, unausloͤſchlich.
Je dunkler, deſto inniger wirkt alles; je weniger Gedanken
ſie verbinden, je ſeltner ſie Triebe uͤben, deſto ſtaͤrker ſind die
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 170[150]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/172>, abgerufen am 22.11.2024.
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