Bei einem Thema, wie das Meinige "Geschichte der Menschheit, Philosophie ihrer Ge- schichte" ist, wie ich glaube, eine solche Humanität des Lesers, eine angenehme und erste Pflicht. Der da schrieb, war Mensch und du bist Mensch, der du liesest. Er konnte irren und hat vielleicht geirret: du hast Kenntnisse, die jener nicht hat und haben konnte; gebrauche also, was du kannst und siehe seinen guten Willen an; laß es aber nicht beim Tadel, sondern beßre und baue weiter. Mit schwacher Hand legte er einige Grundsteine zu einem Ge- bäude, das nur Jahrhunderte vollführen können, vollfüh- ren werden: glücklich, wenn alsdenn diese Steine mit Erde bedeckt und wie der, der sie dahin trug, vergessen seyn wer- den, wenn über ihnen oder gar auf einem andern Platz nur das schönere Gebäude selbst dastehet.
Doch ich habe mich unvermerkt zu weit von dem ent- fernt, worauf ich Anfangs ausgieng; es sollte nämlich die Geschichte seyn, wie ich zur Bearbeitung dieser Materie gekommen und unter ganz andern Beschäftigungen und Pflichten auf sie zurückgekommen bin. Schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der Wissenschaften noch in al- le dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entziehet, kam mir oft
der
Bei einem Thema, wie das Meinige „Geſchichte der Menſchheit, Philoſophie ihrer Ge- ſchichte„ iſt, wie ich glaube, eine ſolche Humanitaͤt des Leſers, eine angenehme und erſte Pflicht. Der da ſchrieb, war Menſch und du biſt Menſch, der du lieſeſt. Er konnte irren und hat vielleicht geirret: du haſt Kenntniſſe, die jener nicht hat und haben konnte; gebrauche alſo, was du kannſt und ſiehe ſeinen guten Willen an; laß es aber nicht beim Tadel, ſondern beßre und baue weiter. Mit ſchwacher Hand legte er einige Grundſteine zu einem Ge- baͤude, das nur Jahrhunderte vollfuͤhren koͤnnen, vollfuͤh- ren werden: gluͤcklich, wenn alsdenn dieſe Steine mit Erde bedeckt und wie der, der ſie dahin trug, vergeſſen ſeyn wer- den, wenn uͤber ihnen oder gar auf einem andern Platz nur das ſchoͤnere Gebaͤude ſelbſt daſtehet.
Doch ich habe mich unvermerkt zu weit von dem ent- fernt, worauf ich Anfangs ausgieng; es ſollte naͤmlich die Geſchichte ſeyn, wie ich zur Bearbeitung dieſer Materie gekommen und unter ganz andern Beſchaͤftigungen und Pflichten auf ſie zuruͤckgekommen bin. Schon in ziemlich fruͤhen Jahren, da die Auen der Wiſſenſchaften noch in al- le dem Morgenſchmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagsſonne unſres Lebens ſo viel entziehet, kam mir oft
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Bei einem Thema, wie das Meinige „Geſchichte
der Menſchheit, Philoſophie ihrer Ge-
ſchichte„ iſt, wie ich glaube, eine ſolche Humanitaͤt
des Leſers, eine angenehme und erſte Pflicht. Der da ſchrieb,
war Menſch und du biſt Menſch, der du lieſeſt. Er
konnte irren und hat vielleicht geirret: du haſt Kenntniſſe,
die jener nicht hat und haben konnte; gebrauche alſo, was
du kannſt und ſiehe ſeinen guten Willen an; laß es aber
nicht beim Tadel, ſondern beßre und baue weiter. Mit
ſchwacher Hand legte er einige Grundſteine zu einem Ge-
baͤude, das nur Jahrhunderte vollfuͤhren koͤnnen, vollfuͤh-
ren werden: gluͤcklich, wenn alsdenn dieſe Steine mit Erde
bedeckt und wie der, der ſie dahin trug, vergeſſen ſeyn wer-
den, wenn uͤber ihnen oder gar auf einem andern Platz nur
das ſchoͤnere Gebaͤude ſelbſt daſtehet.
Doch ich habe mich unvermerkt zu weit von dem ent-
fernt, worauf ich Anfangs ausgieng; es ſollte naͤmlich die
Geſchichte ſeyn, wie ich zur Bearbeitung dieſer Materie
gekommen und unter ganz andern Beſchaͤftigungen und
Pflichten auf ſie zuruͤckgekommen bin. Schon in ziemlich
fruͤhen Jahren, da die Auen der Wiſſenſchaften noch in al-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/14>, abgerufen am 23.11.2024.
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