Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

drängt ist; es muß sich seiner Haut wehren und für sein Le-
ben sorgen.

Warum that die Natur dies? warum drängte sie so
die Geschöpfe auf einander? Weil sie im kleinsten Raum
die größeste und vielfachste Anzahl der Lebenden schaffen woll-
te, wo also auch Eins das andre überwältigt und nur durch
das Gleichgewicht der Kräfte Friede wird in der Schöpfung.
Jede Gattung sorgt für sich, als ob sie die Einige wäre; ihr
zur Seite steht aber eine andre da, die sie einschränkt und
nur in diesem Verhältniß entgegengesetzter Arten fand die
Schöpferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie
wog die Kräfte, sie zählte die Glieder, sie bestimmte die Trie-
be der Gattungen gegen einander; und ließ übrigens die Er-
de tragen, was sie zu tragen vermochte.

Es kümmert mich also nicht: ob große Thiergattungen
untergegangen sind? Ging der Mammuth unter: so gingen
auch Riesen unter; es war ein anderes Verhältniß zwischen
den Geschlechtern. Wie es jetzt ist, sehen wir das offenbare
Gleichgewicht, nicht nur im Ganzen der Erde, sondern auch
selbst in einzelnen Welttheilen und Ländern. Die Cultur
kann Thiere verdrängen: sie kann sie aber schwerlich ausrot-
ten, wenigstens hat sie dies Werk noch in keinem großen

Erd-

draͤngt iſt; es muß ſich ſeiner Haut wehren und fuͤr ſein Le-
ben ſorgen.

Warum that die Natur dies? warum draͤngte ſie ſo
die Geſchoͤpfe auf einander? Weil ſie im kleinſten Raum
die groͤßeſte und vielfachſte Anzahl der Lebenden ſchaffen woll-
te, wo alſo auch Eins das andre uͤberwaͤltigt und nur durch
das Gleichgewicht der Kraͤfte Friede wird in der Schoͤpfung.
Jede Gattung ſorgt fuͤr ſich, als ob ſie die Einige waͤre; ihr
zur Seite ſteht aber eine andre da, die ſie einſchraͤnkt und
nur in dieſem Verhaͤltniß entgegengeſetzter Arten fand die
Schoͤpferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie
wog die Kraͤfte, ſie zaͤhlte die Glieder, ſie beſtimmte die Trie-
be der Gattungen gegen einander; und ließ uͤbrigens die Er-
de tragen, was ſie zu tragen vermochte.

Es kuͤmmert mich alſo nicht: ob große Thiergattungen
untergegangen ſind? Ging der Mammuth unter: ſo gingen
auch Rieſen unter; es war ein anderes Verhaͤltniß zwiſchen
den Geſchlechtern. Wie es jetzt iſt, ſehen wir das offenbare
Gleichgewicht, nicht nur im Ganzen der Erde, ſondern auch
ſelbſt in einzelnen Welttheilen und Laͤndern. Die Cultur
kann Thiere verdraͤngen: ſie kann ſie aber ſchwerlich ausrot-
ten, wenigſtens hat ſie dies Werk noch in keinem großen

Erd-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0102" n="80"/>
dra&#x0364;ngt i&#x017F;t; es muß &#x017F;ich &#x017F;einer Haut wehren und fu&#x0364;r &#x017F;ein Le-<lb/>
ben &#x017F;orgen.</p><lb/>
          <p>Warum that die Natur dies? warum dra&#x0364;ngte &#x017F;ie &#x017F;o<lb/>
die Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe auf einander? Weil &#x017F;ie im klein&#x017F;ten Raum<lb/>
die gro&#x0364;ße&#x017F;te und vielfach&#x017F;te Anzahl der Lebenden &#x017F;chaffen woll-<lb/>
te, wo al&#x017F;o auch Eins das andre u&#x0364;berwa&#x0364;ltigt und nur durch<lb/>
das Gleichgewicht der Kra&#x0364;fte Friede wird in der Scho&#x0364;pfung.<lb/>
Jede Gattung &#x017F;orgt fu&#x0364;r &#x017F;ich, als ob &#x017F;ie die Einige wa&#x0364;re; ihr<lb/>
zur Seite &#x017F;teht aber eine andre da, die &#x017F;ie ein&#x017F;chra&#x0364;nkt und<lb/>
nur in die&#x017F;em Verha&#x0364;ltniß entgegenge&#x017F;etzter Arten fand die<lb/>
Scho&#x0364;pferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie<lb/>
wog die Kra&#x0364;fte, &#x017F;ie za&#x0364;hlte die Glieder, &#x017F;ie be&#x017F;timmte die Trie-<lb/>
be der Gattungen gegen einander; und ließ u&#x0364;brigens die Er-<lb/>
de tragen, was &#x017F;ie zu tragen vermochte.</p><lb/>
          <p>Es ku&#x0364;mmert mich al&#x017F;o nicht: ob große Thiergattungen<lb/>
untergegangen &#x017F;ind? Ging der Mammuth unter: &#x017F;o gingen<lb/>
auch Rie&#x017F;en unter; es war ein anderes Verha&#x0364;ltniß zwi&#x017F;chen<lb/>
den Ge&#x017F;chlechtern. Wie es jetzt i&#x017F;t, &#x017F;ehen wir das offenbare<lb/>
Gleichgewicht, nicht nur im Ganzen der Erde, &#x017F;ondern auch<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in einzelnen Welttheilen und La&#x0364;ndern. Die Cultur<lb/>
kann Thiere verdra&#x0364;ngen: &#x017F;ie kann &#x017F;ie aber &#x017F;chwerlich ausrot-<lb/>
ten, wenig&#x017F;tens hat &#x017F;ie dies Werk noch in keinem großen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Erd-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0102] draͤngt iſt; es muß ſich ſeiner Haut wehren und fuͤr ſein Le- ben ſorgen. Warum that die Natur dies? warum draͤngte ſie ſo die Geſchoͤpfe auf einander? Weil ſie im kleinſten Raum die groͤßeſte und vielfachſte Anzahl der Lebenden ſchaffen woll- te, wo alſo auch Eins das andre uͤberwaͤltigt und nur durch das Gleichgewicht der Kraͤfte Friede wird in der Schoͤpfung. Jede Gattung ſorgt fuͤr ſich, als ob ſie die Einige waͤre; ihr zur Seite ſteht aber eine andre da, die ſie einſchraͤnkt und nur in dieſem Verhaͤltniß entgegengeſetzter Arten fand die Schoͤpferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie wog die Kraͤfte, ſie zaͤhlte die Glieder, ſie beſtimmte die Trie- be der Gattungen gegen einander; und ließ uͤbrigens die Er- de tragen, was ſie zu tragen vermochte. Es kuͤmmert mich alſo nicht: ob große Thiergattungen untergegangen ſind? Ging der Mammuth unter: ſo gingen auch Rieſen unter; es war ein anderes Verhaͤltniß zwiſchen den Geſchlechtern. Wie es jetzt iſt, ſehen wir das offenbare Gleichgewicht, nicht nur im Ganzen der Erde, ſondern auch ſelbſt in einzelnen Welttheilen und Laͤndern. Die Cultur kann Thiere verdraͤngen: ſie kann ſie aber ſchwerlich ausrot- ten, wenigſtens hat ſie dies Werk noch in keinem großen Erd-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/102
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/102>, abgerufen am 23.11.2024.