Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

fanden die Ankömmlinge des Menschengeschlechts die Ge-
gend, wenigstens in einigen Elementen, schon besetzt: denn
wovon sollte außer den Pflanzen sonst der Ankömmling le-
ben? Jede Geschichte des Menschen also, die ihn ausser die-
sem Verhältniß betrachtet, muß mangelhaft und einseitig
werden. Freilich ist die Erde dem Menschen gegeben; aber
nicht ihm allein, nicht ihm zuvörderst; in jedem Element
machten ihm die Thiere seine Alleinherrschaft streitig. Dies
Geschlecht mußte er zähmen; mit jenem lange kämpfen.
Einige entronnen seiner Herrschaft: mit andern lebet er in
ewigem Kriege. Kurz, so viel Geschicklichkeit, Klugheit,
Herz und Macht jede Art äußerte; so weit nahm sie Besitz
auf der Erde.

Es gehört also noch nicht hieher: ob der Mensch Ver-
nunft, und ob die Thiere keine Vernunft haben? Haben sie
diese nicht, so besitzen sie etwas anders zu ihrem Vortheil:
denn gewiß hat die Natur keines ihrer Kinder verwahrloset.
Verliesse Sie ein Geschöpf, wer sollte sich sein annehmen?
da die ganze Schöpfung in einem Kriege ist und die entge-
gengesetztesten Kräfte einander so nahe liegen. Der Gott-
gleiche Mensch wird hier von Schlangen, dort vom Unge-
ziefer verfolgt; hier vom Tiger, dort vom Haifisch verschlun-
gen. Alles ist im Streit gegen einander, weil alles selbst be-

drängt

fanden die Ankoͤmmlinge des Menſchengeſchlechts die Ge-
gend, wenigſtens in einigen Elementen, ſchon beſetzt: denn
wovon ſollte außer den Pflanzen ſonſt der Ankoͤmmling le-
ben? Jede Geſchichte des Menſchen alſo, die ihn auſſer die-
ſem Verhaͤltniß betrachtet, muß mangelhaft und einſeitig
werden. Freilich iſt die Erde dem Menſchen gegeben; aber
nicht ihm allein, nicht ihm zuvoͤrderſt; in jedem Element
machten ihm die Thiere ſeine Alleinherrſchaft ſtreitig. Dies
Geſchlecht mußte er zaͤhmen; mit jenem lange kaͤmpfen.
Einige entronnen ſeiner Herrſchaft: mit andern lebet er in
ewigem Kriege. Kurz, ſo viel Geſchicklichkeit, Klugheit,
Herz und Macht jede Art aͤußerte; ſo weit nahm ſie Beſitz
auf der Erde.

Es gehoͤrt alſo noch nicht hieher: ob der Menſch Ver-
nunft, und ob die Thiere keine Vernunft haben? Haben ſie
dieſe nicht, ſo beſitzen ſie etwas anders zu ihrem Vortheil:
denn gewiß hat die Natur keines ihrer Kinder verwahrloſet.
Verlieſſe Sie ein Geſchoͤpf, wer ſollte ſich ſein annehmen?
da die ganze Schoͤpfung in einem Kriege iſt und die entge-
gengeſetzteſten Kraͤfte einander ſo nahe liegen. Der Gott-
gleiche Menſch wird hier von Schlangen, dort vom Unge-
ziefer verfolgt; hier vom Tiger, dort vom Haifiſch verſchlun-
gen. Alles iſt im Streit gegen einander, weil alles ſelbſt be-

draͤngt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="2">
          <pb facs="#f0101" n="79"/>
          <p>fanden die Anko&#x0364;mmlinge des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts die Ge-<lb/>
gend, wenig&#x017F;tens in einigen Elementen, &#x017F;chon be&#x017F;etzt: denn<lb/>
wovon &#x017F;ollte außer den Pflanzen &#x017F;on&#x017F;t der Anko&#x0364;mmling le-<lb/>
ben? Jede Ge&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen al&#x017F;o, die ihn au&#x017F;&#x017F;er die-<lb/>
&#x017F;em Verha&#x0364;ltniß betrachtet, muß mangelhaft und ein&#x017F;eitig<lb/>
werden. Freilich i&#x017F;t die Erde dem Men&#x017F;chen gegeben; aber<lb/>
nicht ihm allein, nicht ihm zuvo&#x0364;rder&#x017F;t; in jedem Element<lb/>
machten ihm die Thiere &#x017F;eine Alleinherr&#x017F;chaft &#x017F;treitig. Dies<lb/>
Ge&#x017F;chlecht mußte er za&#x0364;hmen; mit jenem lange ka&#x0364;mpfen.<lb/>
Einige entronnen &#x017F;einer Herr&#x017F;chaft: mit andern lebet er in<lb/>
ewigem Kriege. Kurz, &#x017F;o viel Ge&#x017F;chicklichkeit, Klugheit,<lb/>
Herz und Macht jede Art a&#x0364;ußerte; &#x017F;o weit nahm &#x017F;ie Be&#x017F;itz<lb/>
auf der Erde.</p><lb/>
          <p>Es geho&#x0364;rt al&#x017F;o noch nicht hieher: ob der Men&#x017F;ch Ver-<lb/>
nunft, und ob die Thiere keine Vernunft haben? Haben &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;e nicht, &#x017F;o be&#x017F;itzen &#x017F;ie etwas anders zu ihrem Vortheil:<lb/>
denn gewiß hat die Natur keines ihrer Kinder verwahrlo&#x017F;et.<lb/>
Verlie&#x017F;&#x017F;e Sie ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, wer &#x017F;ollte &#x017F;ich &#x017F;ein annehmen?<lb/>
da die ganze Scho&#x0364;pfung in einem Kriege i&#x017F;t und die entge-<lb/>
genge&#x017F;etzte&#x017F;ten Kra&#x0364;fte einander &#x017F;o nahe liegen. Der Gott-<lb/>
gleiche Men&#x017F;ch wird hier von Schlangen, dort vom Unge-<lb/>
ziefer verfolgt; hier vom Tiger, dort vom Haifi&#x017F;ch ver&#x017F;chlun-<lb/>
gen. Alles i&#x017F;t im Streit gegen einander, weil alles &#x017F;elb&#x017F;t be-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dra&#x0364;ngt</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0101] fanden die Ankoͤmmlinge des Menſchengeſchlechts die Ge- gend, wenigſtens in einigen Elementen, ſchon beſetzt: denn wovon ſollte außer den Pflanzen ſonſt der Ankoͤmmling le- ben? Jede Geſchichte des Menſchen alſo, die ihn auſſer die- ſem Verhaͤltniß betrachtet, muß mangelhaft und einſeitig werden. Freilich iſt die Erde dem Menſchen gegeben; aber nicht ihm allein, nicht ihm zuvoͤrderſt; in jedem Element machten ihm die Thiere ſeine Alleinherrſchaft ſtreitig. Dies Geſchlecht mußte er zaͤhmen; mit jenem lange kaͤmpfen. Einige entronnen ſeiner Herrſchaft: mit andern lebet er in ewigem Kriege. Kurz, ſo viel Geſchicklichkeit, Klugheit, Herz und Macht jede Art aͤußerte; ſo weit nahm ſie Beſitz auf der Erde. Es gehoͤrt alſo noch nicht hieher: ob der Menſch Ver- nunft, und ob die Thiere keine Vernunft haben? Haben ſie dieſe nicht, ſo beſitzen ſie etwas anders zu ihrem Vortheil: denn gewiß hat die Natur keines ihrer Kinder verwahrloſet. Verlieſſe Sie ein Geſchoͤpf, wer ſollte ſich ſein annehmen? da die ganze Schoͤpfung in einem Kriege iſt und die entge- gengeſetzteſten Kraͤfte einander ſo nahe liegen. Der Gott- gleiche Menſch wird hier von Schlangen, dort vom Unge- ziefer verfolgt; hier vom Tiger, dort vom Haifiſch verſchlun- gen. Alles iſt im Streit gegen einander, weil alles ſelbſt be- draͤngt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/101
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/101>, abgerufen am 23.11.2024.