konnte diese neue Ausgabe sich jetzt in ihrer alten Gestalt vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt, daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich zu nennen, in andre Bücher übergegangen und in einem Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte. Das bescheidne "Auch" war vergessen; und doch war mir es nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten, Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Ge- schichte der Cultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuß ausmessen könnte. Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Cultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vor- sehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten, jedes Jndi- viduum des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts ist unbestimmter als dieses Wort und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem cultivirten Volk cultivirt? und worinn ist dieser Vorzug zu setzen? und wie fern trägt er zu ihrer Glückseligkeit bei? zur Glückseligkeit einzelner Menschen nämlich, denn daß das Abstractum ganzer Staa-
ten
konnte dieſe neue Ausgabe ſich jetzt in ihrer alten Geſtalt vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt, daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich zu nennen, in andre Buͤcher uͤbergegangen und in einem Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte. Das beſcheidne „Auch„ war vergeſſen; und doch war mir es nie eingefallen, mit den wenigen allegoriſchen Worten, Kindheit, Jugend, das maͤnnliche, das hohe Alter unſeres Geſchlechts, deren Verfolg nur auf wenige Voͤlker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerſtraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Ge- ſchichte der Cultur, geſchweige die Philoſophie der ganzen Menſchengeſchichte mit ſicherm Fuß ausmeſſen koͤnnte. Welches Volk der Erde iſts, das nicht einige Cultur habe? und wie ſehr kaͤme der Plan der Vor- ſehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen ſollten, jedes Jndi- viduum des Menſchengeſchlechts geſchaffen waͤre? Nichts iſt unbeſtimmter als dieſes Wort und nichts iſt truͤglicher als die Anwendung deſſelben auf ganze Voͤlker und Zeiten. Wie wenige ſind in einem cultivirten Volk cultivirt? und worinn iſt dieſer Vorzug zu ſetzen? und wie fern traͤgt er zu ihrer Gluͤckſeligkeit bei? zur Gluͤckſeligkeit einzelner Menſchen naͤmlich, denn daß das Abſtractum ganzer Staa-
ten
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0010"/>
konnte dieſe neue Ausgabe ſich jetzt in ihrer alten Geſtalt<lb/>
vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt,<lb/>
daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich<lb/>
zu nennen, in andre Buͤcher uͤbergegangen und in einem<lb/>
Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte.<lb/>
Das beſcheidne „Auch„ war vergeſſen; und doch war mir<lb/>
es nie eingefallen, mit den wenigen allegoriſchen Worten,<lb/><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Kindheit, Jugend</hi>,</hi> das <hirendition="#fr"><hirendition="#g">maͤnnliche</hi>,</hi> das <hirendition="#fr"><hirendition="#g">hohe<lb/>
Alter</hi></hi> unſeres Geſchlechts, deren Verfolg nur auf wenige<lb/>
Voͤlker der Erde angewandt und anwendbar war, eine<lb/>
Heerſtraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die <hirendition="#fr"><hirendition="#g">Ge-<lb/>ſchichte der Cultur</hi></hi>, geſchweige die <hirendition="#fr"><hirendition="#g">Philoſophie<lb/>
der ganzen Menſchengeſchichte</hi></hi> mit ſicherm Fuß<lb/>
ausmeſſen koͤnnte. Welches Volk der Erde iſts, das nicht<lb/>
einige Cultur habe? und wie ſehr kaͤme der Plan der Vor-<lb/>ſehung zu kurz, wenn zu dem, was <hirendition="#fr"><hirendition="#g">Wir</hi></hi> Cultur nennen und<lb/>
oft nur verfeinte Schwachheit nennen ſollten, jedes Jndi-<lb/>
viduum des Menſchengeſchlechts geſchaffen waͤre? Nichts<lb/>
iſt unbeſtimmter als dieſes Wort und nichts iſt truͤglicher<lb/>
als die Anwendung deſſelben auf ganze Voͤlker und Zeiten.<lb/>
Wie wenige ſind in einem cultivirten Volk cultivirt? und<lb/>
worinn iſt dieſer Vorzug zu ſetzen? und wie fern traͤgt er<lb/>
zu ihrer Gluͤckſeligkeit bei? zur Gluͤckſeligkeit einzelner<lb/>
Menſchen naͤmlich, denn daß das Abſtractum ganzer Staa-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ten</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[0010]
konnte dieſe neue Ausgabe ſich jetzt in ihrer alten Geſtalt
vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt,
daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich
zu nennen, in andre Buͤcher uͤbergegangen und in einem
Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte.
Das beſcheidne „Auch„ war vergeſſen; und doch war mir
es nie eingefallen, mit den wenigen allegoriſchen Worten,
Kindheit, Jugend, das maͤnnliche, das hohe
Alter unſeres Geſchlechts, deren Verfolg nur auf wenige
Voͤlker der Erde angewandt und anwendbar war, eine
Heerſtraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Ge-
ſchichte der Cultur, geſchweige die Philoſophie
der ganzen Menſchengeſchichte mit ſicherm Fuß
ausmeſſen koͤnnte. Welches Volk der Erde iſts, das nicht
einige Cultur habe? und wie ſehr kaͤme der Plan der Vor-
ſehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und
oft nur verfeinte Schwachheit nennen ſollten, jedes Jndi-
viduum des Menſchengeſchlechts geſchaffen waͤre? Nichts
iſt unbeſtimmter als dieſes Wort und nichts iſt truͤglicher
als die Anwendung deſſelben auf ganze Voͤlker und Zeiten.
Wie wenige ſind in einem cultivirten Volk cultivirt? und
worinn iſt dieſer Vorzug zu ſetzen? und wie fern traͤgt er
zu ihrer Gluͤckſeligkeit bei? zur Gluͤckſeligkeit einzelner
Menſchen naͤmlich, denn daß das Abſtractum ganzer Staa-
ten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/10>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.