Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75.paaren. Wer kann sich in der Sprache des gemeinen Lebens über alle Gegenstände, mit denen er durch die Erziehung familiär geworden ist, geläufiger und triftiger ausdrücken, als der gemeine Mann von gutem gesunden Verstande? Aber nun versucht bei ihm den Gedanken vom Ausdruck zu sondern: ihr verstehet das Wort nicht, er soll euch seinen Begriff durch andre Worte erklären (ich meine nicht sinnliche Zeichen) so ist für ihn keine größere Mühe in der Welt; und für euch wirds ein lächerlicher Auftritt seyn, einen Worterklärenden Bauer zu sehen: seine Seele und seine Sprache sind zwo Schwestern, in Gesellschaft erzogen, zu einander gewöhnt, und unabtrennbarer, als Julie und Clare, für den philosophirenden St. Preux, wenn er mit der einen allein buhlen wollte. Drittens! die feinere Sprache des Umganges macht zwar die Zunge freier, und bindet sie mehr vom Gedanken los (ich meine hier nicht Moralisch, sondern Psychologisch), dadurch, daß sie sich zum Vernünfteln bildet. In dem großen Reichthume von Ausdrücken über "die Vorfallenheiten des Lebens, über paaren. Wer kann sich in der Sprache des gemeinen Lebens über alle Gegenstände, mit denen er durch die Erziehung familiär geworden ist, geläufiger und triftiger ausdrücken, als der gemeine Mann von gutem gesunden Verstande? Aber nun versucht bei ihm den Gedanken vom Ausdruck zu sondern: ihr verstehet das Wort nicht, er soll euch seinen Begriff durch andre Worte erklären (ich meine nicht sinnliche Zeichen) so ist für ihn keine größere Mühe in der Welt; und für euch wirds ein lächerlicher Auftritt seyn, einen Worterklärenden Bauer zu sehen: seine Seele und seine Sprache sind zwo Schwestern, in Gesellschaft erzogen, zu einander gewöhnt, und unabtrennbarer, als Julie und Clare, für den philosophirenden St. Preux, wenn er mit der einen allein buhlen wollte. Drittens! die feinere Sprache des Umganges macht zwar die Zunge freier, und bindet sie mehr vom Gedanken los (ich meine hier nicht Moralisch, sondern Psychologisch), dadurch, daß sie sich zum Vernünfteln bildet. In dem großen Reichthume von Ausdrücken über "die Vorfallenheiten des Lebens, über <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0004" n="52"/> paaren. Wer kann sich in der Sprache <hi rendition="#g">des gemeinen Lebens</hi> über alle Gegenstände, mit denen er durch die Erziehung familiär geworden ist, <hi rendition="#g">geläufiger</hi> und <hi rendition="#g">triftiger</hi> ausdrücken, als der gemeine Mann von gutem gesunden Verstande? Aber nun versucht bei ihm den <hi rendition="#g">Gedanken</hi> vom <hi rendition="#g">Ausdruck</hi> zu sondern: ihr verstehet das Wort nicht, er soll euch seinen Begriff durch <hi rendition="#g">andre Worte</hi> erklären (ich meine nicht sinnliche Zeichen) so ist für ihn keine größere Mühe in der Welt; und für euch wirds ein lächerlicher Auftritt seyn, einen Worterklärenden Bauer zu sehen: seine Seele und seine Sprache sind zwo Schwestern, in Gesellschaft erzogen, zu einander gewöhnt, und unabtrennbarer, als <hi rendition="#g">Julie</hi> und <hi rendition="#g">Clare</hi>, für den philosophirenden <hi rendition="#g">St. Preux</hi>, wenn er mit der einen allein buhlen wollte. </p><lb/> <p> Drittens! die feinere Sprache des Umganges macht zwar die Zunge freier, und bindet sie mehr vom Gedanken los (ich meine hier nicht Moralisch, sondern Psychologisch), dadurch, daß sie sich zum Vernünfteln bildet. In dem großen Reichthume von Ausdrücken über "die Vorfallenheiten des Lebens, über </p> </div> </body> </text> </TEI> [52/0004]
paaren. Wer kann sich in der Sprache des gemeinen Lebens über alle Gegenstände, mit denen er durch die Erziehung familiär geworden ist, geläufiger und triftiger ausdrücken, als der gemeine Mann von gutem gesunden Verstande? Aber nun versucht bei ihm den Gedanken vom Ausdruck zu sondern: ihr verstehet das Wort nicht, er soll euch seinen Begriff durch andre Worte erklären (ich meine nicht sinnliche Zeichen) so ist für ihn keine größere Mühe in der Welt; und für euch wirds ein lächerlicher Auftritt seyn, einen Worterklärenden Bauer zu sehen: seine Seele und seine Sprache sind zwo Schwestern, in Gesellschaft erzogen, zu einander gewöhnt, und unabtrennbarer, als Julie und Clare, für den philosophirenden St. Preux, wenn er mit der einen allein buhlen wollte.
Drittens! die feinere Sprache des Umganges macht zwar die Zunge freier, und bindet sie mehr vom Gedanken los (ich meine hier nicht Moralisch, sondern Psychologisch), dadurch, daß sie sich zum Vernünfteln bildet. In dem großen Reichthume von Ausdrücken über "die Vorfallenheiten des Lebens, über
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75, hier S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767/4>, abgerufen am 16.07.2024. |