anderer Zusammenhang unter den Theilen des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebü- schen im Walde, unter den Felsen und Grot- ten in der Einöde, als unter den Scenen der Begebenheit selbst. Wenn der Grönländer von seinem Seehundfange erzählt: so redet er nicht, sondern mahlet mit Worten nnd Bewe- gungen, jeden Umstand, jede Bewegung: denn alle sind Theile vom Bilde in seiner Seele. Wenn er also auch seinem Verstorbnen das Leichenlob und die Todtenklage hält, er lobt, er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des Verstorbnen selbst, mit allen Würfen der Ein- bildung herbeygerissen, muß reden und bejam- mern. Jch entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu setzen; denn da es gewöhn- lich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der Morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regel- mäßig ausgesponnen hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem volles Bilde seiner Phantasie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verstorbnen sitzen im Trauerhause, den Kopf zwischen die Hände, die Arme aufs Knie gestützt: die Wei-
ber
anderer Zuſammenhang unter den Theilen des Geſanges, als unter den Baͤumen und Gebuͤ- ſchen im Walde, unter den Felſen und Grot- ten in der Einoͤde, als unter den Scenen der Begebenheit ſelbſt. Wenn der Groͤnlaͤnder von ſeinem Seehundfange erzaͤhlt: ſo redet er nicht, ſondern mahlet mit Worten nnd Bewe- gungen, jeden Umſtand, jede Bewegung: denn alle ſind Theile vom Bilde in ſeiner Seele. Wenn er alſo auch ſeinem Verſtorbnen das Leichenlob und die Todtenklage haͤlt, er lobt, er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des Verſtorbnen ſelbſt, mit allen Wuͤrfen der Ein- bildung herbeygeriſſen, muß reden und bejam- mern. Jch entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu ſetzen; denn da es gewoͤhn- lich iſt, Spruͤnge und Wuͤrfe ſolcher Stuͤcke fuͤr Tollheiten der Morgenlaͤndiſchen Hitze, fuͤr Enthuſiasmus des Prophetengeiſtes, oder fuͤr ſchoͤne Kunſtſpruͤnge der Ode auszugeben, und man aus dieſen eine ſo herrliche Webertheorie vom Plan und den Spruͤngen der Ode recht regel- maͤßig ausgeſponnen hat: ſo moͤge hier ein kalter Groͤnlaͤnder faſt unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeiſt und Odentheorie, aus dem volles Bilde ſeiner Phantaſie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verſtorbnen ſitzen im Trauerhauſe, den Kopf zwiſchen die Haͤnde, die Arme aufs Knie geſtuͤtzt: die Wei-
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[60/0064]
anderer Zuſammenhang unter den Theilen des
Geſanges, als unter den Baͤumen und Gebuͤ-
ſchen im Walde, unter den Felſen und Grot-
ten in der Einoͤde, als unter den Scenen der
Begebenheit ſelbſt. Wenn der Groͤnlaͤnder
von ſeinem Seehundfange erzaͤhlt: ſo redet er
nicht, ſondern mahlet mit Worten nnd Bewe-
gungen, jeden Umſtand, jede Bewegung:
denn alle ſind Theile vom Bilde in ſeiner Seele.
Wenn er alſo auch ſeinem Verſtorbnen das
Leichenlob und die Todtenklage haͤlt, er lobt,
er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des
Verſtorbnen ſelbſt, mit allen Wuͤrfen der Ein-
bildung herbeygeriſſen, muß reden und bejam-
mern. Jch entbreche mich nicht ein Fragment
der Art hieher zu ſetzen; denn da es gewoͤhn-
lich iſt, Spruͤnge und Wuͤrfe ſolcher Stuͤcke
fuͤr Tollheiten der Morgenlaͤndiſchen Hitze, fuͤr
Enthuſiasmus des Prophetengeiſtes, oder fuͤr
ſchoͤne Kunſtſpruͤnge der Ode auszugeben, und
man aus dieſen eine ſo herrliche Webertheorie
vom Plan und den Spruͤngen der Ode recht regel-
maͤßig ausgeſponnen hat: ſo moͤge hier ein
kalter Groͤnlaͤnder faſt unterm Pol hervor, ohne
Hitze und Prophetengeiſt und Odentheorie, aus
dem volles Bilde ſeiner Phantaſie reden. Alle
Grabbegleiter und Freunde des Verſtorbnen
ſitzen im Trauerhauſe, den Kopf zwiſchen die
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/64>, abgerufen am 15.08.2024.
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