Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

Nun sagen Sie mir, was kühn geworfner,
abgebrochner und doch natürlicher, gemeiner,
volksmässiger seyn kann? Jch sage volksmässi-
ger: denn was die Bräutigamssitte betrift,
lesen Sie die Gebräuche der Wilden, z. E. der
Nordamerikaner; und das Kostume der Er-
scheinung, in seiner ganzen Natur, brauche ich
Jhnen nicht zu erklären -- künftig weiter!



...Sie glauben, daß auch wir Deutschen
wohl mehr solche Gedichte hätten,
als ich mit der schottischen Romanze angeführet;
ich glaube nicht allein, sondern ich weiß es.
Jn mehr als einer Provinz sind mir Volkslie-
der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt,
die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai-
vetät und Stärke der Sprache vielen derselben
gewiß nichts nachgeben würden; nur wer ist der
sie sammle? der sich um sie bekümmre? sich
um Lieder des Volks bekümmre? auf Strassen,
und Gassen und Fischmärkten? im ungelehr-
ten Rundgesange des Landvolks? um Lieder,
die oft nicht skandirt, und oft schlecht gereimt
sind? | wer wollte | sie sammlen -- wer für
unsre Kritiker, die ja so gut Sylben zählen,
und skandiren können, drucken lassen? Lieber
lesen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unsre

neuere
D 2

Nun ſagen Sie mir, was kuͤhn geworfner,
abgebrochner und doch natuͤrlicher, gemeiner,
volksmaͤſſiger ſeyn kann? Jch ſage volksmaͤſſi-
ger: denn was die Braͤutigamsſitte betrift,
leſen Sie die Gebraͤuche der Wilden, z. E. der
Nordamerikaner; und das Koſtume der Er-
ſcheinung, in ſeiner ganzen Natur, brauche ich
Jhnen nicht zu erklaͤren — kuͤnftig weiter!



Sie glauben, daß auch wir Deutſchen
wohl mehr ſolche Gedichte haͤtten,
als ich mit der ſchottiſchen Romanze angefuͤhret;
ich glaube nicht allein, ſondern ich weiß es.
Jn mehr als einer Provinz ſind mir Volkslie-
der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt,
die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai-
vetaͤt und Staͤrke der Sprache vielen derſelben
gewiß nichts nachgeben wuͤrden; nur wer iſt der
ſie ſammle? der ſich um ſie bekuͤmmre? ſich
um Lieder des Volks bekuͤmmre? auf Straſſen,
und Gaſſen und Fiſchmaͤrkten? im ungelehr-
ten Rundgeſange des Landvolks? um Lieder,
die oft nicht ſkandirt, und oft ſchlecht gereimt
ſind? | wer wollte | ſie ſammlen — wer fuͤr
unſre Kritiker, die ja ſo gut Sylben zaͤhlen,
und ſkandiren koͤnnen, drucken laſſen? Lieber
leſen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unſre

neuere
D 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0055" n="51"/>
        <p>Nun &#x017F;agen Sie mir, was ku&#x0364;hn geworfner,<lb/>
abgebrochner und doch natu&#x0364;rlicher, gemeiner,<lb/>
volksma&#x0364;&#x017F;&#x017F;iger &#x017F;eyn kann? Jch &#x017F;age volksma&#x0364;&#x017F;&#x017F;i-<lb/>
ger: denn was die Bra&#x0364;utigams&#x017F;itte betrift,<lb/>
le&#x017F;en Sie die Gebra&#x0364;uche der Wilden, z. E. der<lb/>
Nordamerikaner; und das Ko&#x017F;tume der Er-<lb/>
&#x017F;cheinung, in &#x017F;einer ganzen Natur, brauche ich<lb/>
Jhnen nicht zu erkla&#x0364;ren &#x2014; ku&#x0364;nftig weiter!</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>&#x2026;<hi rendition="#in">S</hi>ie glauben, daß auch wir Deut&#x017F;chen<lb/>
wohl mehr &#x017F;olche Gedichte ha&#x0364;tten,<lb/>
als ich mit der &#x017F;chotti&#x017F;chen Romanze angefu&#x0364;hret;<lb/>
ich glaube nicht allein, &#x017F;ondern ich weiß es.<lb/>
Jn mehr als einer Provinz &#x017F;ind mir Volkslie-<lb/>
der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt,<lb/>
die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai-<lb/>
veta&#x0364;t und Sta&#x0364;rke der Sprache vielen der&#x017F;elben<lb/>
gewiß nichts nachgeben wu&#x0364;rden; nur wer i&#x017F;t der<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ammle? der &#x017F;ich um &#x017F;ie beku&#x0364;mmre? &#x017F;ich<lb/>
um Lieder des Volks beku&#x0364;mmre? auf Stra&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und Ga&#x017F;&#x017F;en und Fi&#x017F;chma&#x0364;rkten? im ungelehr-<lb/>
ten Rundge&#x017F;ange des Landvolks? um Lieder,<lb/>
die oft nicht &#x017F;kandirt, und oft &#x017F;chlecht gereimt<lb/>
&#x017F;ind? | wer wollte | &#x017F;ie &#x017F;ammlen &#x2014; wer fu&#x0364;r<lb/>
un&#x017F;re Kritiker, die ja &#x017F;o gut Sylben za&#x0364;hlen,<lb/>
und &#x017F;kandiren ko&#x0364;nnen, drucken la&#x017F;&#x017F;en? Lieber<lb/>
le&#x017F;en wir, doch nur zum Zeitvertreib, un&#x017F;re<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 2</fw><fw place="bottom" type="catch">neuere</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0055] Nun ſagen Sie mir, was kuͤhn geworfner, abgebrochner und doch natuͤrlicher, gemeiner, volksmaͤſſiger ſeyn kann? Jch ſage volksmaͤſſi- ger: denn was die Braͤutigamsſitte betrift, leſen Sie die Gebraͤuche der Wilden, z. E. der Nordamerikaner; und das Koſtume der Er- ſcheinung, in ſeiner ganzen Natur, brauche ich Jhnen nicht zu erklaͤren — kuͤnftig weiter! …Sie glauben, daß auch wir Deutſchen wohl mehr ſolche Gedichte haͤtten, als ich mit der ſchottiſchen Romanze angefuͤhret; ich glaube nicht allein, ſondern ich weiß es. Jn mehr als einer Provinz ſind mir Volkslie- der, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Nai- vetaͤt und Staͤrke der Sprache vielen derſelben gewiß nichts nachgeben wuͤrden; nur wer iſt der ſie ſammle? der ſich um ſie bekuͤmmre? ſich um Lieder des Volks bekuͤmmre? auf Straſſen, und Gaſſen und Fiſchmaͤrkten? im ungelehr- ten Rundgeſange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht ſkandirt, und oft ſchlecht gereimt ſind? | wer wollte | ſie ſammlen — wer fuͤr unſre Kritiker, die ja ſo gut Sylben zaͤhlen, und ſkandiren koͤnnen, drucken laſſen? Lieber leſen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unſre neuere D 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/55
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/55>, abgerufen am 24.11.2024.