Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.und Wahrheit und Andringlichkeit. -- Alles Freylich sind unsre Seelen heut zu Tage glücken
und Wahrheit und Andringlichkeit. — Alles Freylich ſind unſre Seelen heut zu Tage gluͤcken
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0046" n="42"/> und Wahrheit und Andringlichkeit. — Alles<lb/> ging verlohren. Die Dichtkunſt, die die ſtuͤr-<lb/> mendſte, ſicherſte Tochter der menſchlichen Seele<lb/> ſeyn ſollte, ward die ungewiſſeſte, lahmſte,<lb/> wankendſte: die Gedichte fein oft corrigirte Kna-<lb/> ben, und Schulexercitien. Und freylich, wenn<lb/> das der Begriff unſrer Zeit iſt, ſo wollen wir<lb/> auch in den alten Stuͤcken immer mehr Kunſt<lb/> als Natur bewundern, finden alſo in ihnen bald<lb/> zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf<lb/> ſteht, und ſelten was in ihnen ſingt, den Geiſt<lb/> der Natur. Jch bin gewiß, daß <hi rendition="#fr">Homer</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Oſſian,</hi> wenn ſie aufleben und ſich leſen, ſich<lb/> ruͤhmen hoͤren ſollten, mehr als zu oft uͤber das<lb/> erſtaunen wuͤrden, was ihnen gegeben und ge-<lb/> nommen, angekuͤnſtelt, und wiederum in ihnen<lb/> nicht gefuͤhlt wird.</p><lb/> <p>Freylich ſind unſre Seelen heut zu Tage<lb/> durch lange Generationen und Erziehung von<lb/> Jugend auf anders gebildet. Wir ſehen und<lb/> fuͤhlen kaum mehr, ſondern denken und gruͤb-<lb/> len nur; wir dichten nicht uͤber und in leben-<lb/> diger Welt, im Sturm und im Zuſammenſtrom<lb/> ſolcher Gegenſtaͤnde, ſolcher Empfindungen;<lb/> ſondern erkuͤnſteln uns entweder Thema, oder<lb/> Art, das Thema zu behandeln, oder gar bey-<lb/> des — und haben uns das ſchon ſo lange,<lb/> ſo oft, ſo von fruͤh auf erkuͤnſtelt, daß uns frey-<lb/> lich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehr<lb/> <fw place="bottom" type="catch">gluͤcken</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [42/0046]
und Wahrheit und Andringlichkeit. — Alles
ging verlohren. Die Dichtkunſt, die die ſtuͤr-
mendſte, ſicherſte Tochter der menſchlichen Seele
ſeyn ſollte, ward die ungewiſſeſte, lahmſte,
wankendſte: die Gedichte fein oft corrigirte Kna-
ben, und Schulexercitien. Und freylich, wenn
das der Begriff unſrer Zeit iſt, ſo wollen wir
auch in den alten Stuͤcken immer mehr Kunſt
als Natur bewundern, finden alſo in ihnen bald
zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf
ſteht, und ſelten was in ihnen ſingt, den Geiſt
der Natur. Jch bin gewiß, daß Homer und
Oſſian, wenn ſie aufleben und ſich leſen, ſich
ruͤhmen hoͤren ſollten, mehr als zu oft uͤber das
erſtaunen wuͤrden, was ihnen gegeben und ge-
nommen, angekuͤnſtelt, und wiederum in ihnen
nicht gefuͤhlt wird.
Freylich ſind unſre Seelen heut zu Tage
durch lange Generationen und Erziehung von
Jugend auf anders gebildet. Wir ſehen und
fuͤhlen kaum mehr, ſondern denken und gruͤb-
len nur; wir dichten nicht uͤber und in leben-
diger Welt, im Sturm und im Zuſammenſtrom
ſolcher Gegenſtaͤnde, ſolcher Empfindungen;
ſondern erkuͤnſteln uns entweder Thema, oder
Art, das Thema zu behandeln, oder gar bey-
des — und haben uns das ſchon ſo lange,
ſo oft, ſo von fruͤh auf erkuͤnſtelt, daß uns frey-
lich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehr
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