Würde, mit Wohlklang, mit Schönheit zu paa- ren wußten; und da sie also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten, sich einan- der nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen, beyzuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke von aoidois, Sängern, Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältsten Zeiten waren. Homers Rhapso- dien und Ossians Lieder waren gleichsam im promptus, weil man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wußte: dem letz- tern sind die Minstrels, wiewohl so schwach und entfernt, gefolgt; indessen doch gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur aus- löschte. Jn fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen, noch weniger imaginiren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelen- kräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen -- und endlich wurde Alles Falschheit, Schwäche, und Künsteley. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und verlohr Festigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit
und
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Wuͤrde, mit Wohlklang, mit Schoͤnheit zu paa- ren wußten; und da ſie alſo Seele und Mund in den feſten Bund gebracht hatten, ſich einan- der nicht zu verwirren, ſondern zu unterſtuͤtzen, beyzuhelfen: ſo entſtanden daher jene fuͤr uns halbe Wunderwerke von αοιδοισ, Saͤngern, Barden, Minſtrels, wie die groͤßten Dichter der aͤltſten Zeiten waren. Homers Rhapſo- dien und Oſſians Lieder waren gleichſam im promptus, weil man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wußte: dem letz- tern ſind die Minſtrels, wiewohl ſo ſchwach und entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt, bis endlich die Kunſt kam und die Natur aus- loͤſchte. Jn fremden Sprachen quaͤlte man ſich von Jugend auf Quantitaͤten von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fuͤhlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigſte, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; uͤber Gegenſtaͤnde zu dichten, uͤber die ſich nichts denken, noch weniger ſinnen, noch weniger imaginiren laͤßt; Leidenſchaften zu erkuͤnſteln, die wir nicht haben, Seelen- kraͤfte nachzuahmen, die wir nicht beſitzen — und endlich wurde Alles Falſchheit, Schwaͤche, und Kuͤnſteley. Selbſt jeder beſte Kopf ward verwirret, und verlohr Feſtigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit
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Wuͤrde, mit Wohlklang, mit Schoͤnheit zu paa-
ren wußten; und da ſie alſo Seele und Mund
in den feſten Bund gebracht hatten, ſich einan-
der nicht zu verwirren, ſondern zu unterſtuͤtzen,
beyzuhelfen: ſo entſtanden daher jene fuͤr uns
halbe Wunderwerke von αοιδοισ, Saͤngern,
Barden, Minſtrels, wie die groͤßten Dichter
der aͤltſten Zeiten waren. Homers Rhapſo-
dien und Oſſians Lieder waren gleichſam im
promptus, weil man damals noch von Nichts
als impromptus der Rede wußte: dem letz-
tern ſind die Minſtrels, wiewohl ſo ſchwach
und entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt,
bis endlich die Kunſt kam und die Natur aus-
loͤſchte. Jn fremden Sprachen quaͤlte man
ſich von Jugend auf Quantitaͤten von Sylben
kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und
Natur zu fuͤhlen gibt: nach Regeln zu arbeiten,
deren wenigſte, ein Genie, als Naturregeln
anerkennet; uͤber Gegenſtaͤnde zu dichten, uͤber
die ſich nichts denken, noch weniger ſinnen,
noch weniger imaginiren laͤßt; Leidenſchaften
zu erkuͤnſteln, die wir nicht haben, Seelen-
kraͤfte nachzuahmen, die wir nicht beſitzen —
und endlich wurde Alles Falſchheit, Schwaͤche,
und Kuͤnſteley. Selbſt jeder beſte Kopf ward
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/45>, abgerufen am 16.07.2024.
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