Aber auch das ist noch nicht eigentlich Ge- nesis des Enthusiasmus, über welchen Sie mir Vorwürfe machen: denn sonst wäre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein blosses Meergespenst, das mir erscheinet. Wissen Sie also, daß ich selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Völkern zu sehen, denen unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben neh- men können, um ihnen dafür etwas sehr Ver- stümmeltes oder Nichts zu geben. Wissen Sie also, daß, wenn ich einen solchen alten -- -- Gesang mit seinem wilden Gange gehört, ich fast immer, wie der französische Marcell ge- standen: que de choses dans un menuet! oder vielmehr, was haben solche Völker durch Umtausch ihrer Gesänge gegen eine verstüm- melte Menuet, und Reimleins, die dieser Me- nuet gleich sind, gewonnen? --
Sie kennen die beyden lettischen Lieder- chen, die Leßing in den Litteraturbrie- fen aus Ruhig anzog, und wissen, wie viel sinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We- sen liegen mußte; lassen Sie mich itzt ein paar Peruanische aus Garcilasso di Vega zie- hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth- mus so viel möglich übertragen; Sie werden aber gleich selbst sehen, wie weit sie sich übertra- gen lassen.
Das
B 3
Aber auch das iſt noch nicht eigentlich Ge- neſis des Enthuſiasmus, uͤber welchen Sie mir Vorwuͤrfe machen: denn ſonſt waͤre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein bloſſes Meergeſpenſt, das mir erſcheinet. Wiſſen Sie alſo, daß ich ſelbſt Gelegenheit gehabt, lebendige Reſte dieſes alten, wilden Geſanges, Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Voͤlkern zu ſehen, denen unſre Sitten noch nicht voͤllig Sprache und Lieder und Gebraͤuche haben neh- men koͤnnen, um ihnen dafuͤr etwas ſehr Ver- ſtuͤmmeltes oder Nichts zu geben. Wiſſen Sie alſo, daß, wenn ich einen ſolchen alten — — Geſang mit ſeinem wilden Gange gehoͤrt, ich faſt immer, wie der franzoͤſiſche Marcell ge- ſtanden: que de choſes dans un menuet! oder vielmehr, was haben ſolche Voͤlker durch Umtauſch ihrer Geſaͤnge gegen eine verſtuͤm- melte Menuet, und Reimleins, die dieſer Me- nuet gleich ſind, gewonnen? —
Sie kennen die beyden lettiſchen Lieder- chen, die Leßing in den Litteraturbrie- fen aus Ruhig anzog, und wiſſen, wie viel ſinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We- ſen liegen mußte; laſſen Sie mich itzt ein paar Peruaniſche aus Garcilaſſo di Vega zie- hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth- mus ſo viel moͤglich uͤbertragen; Sie werden aber gleich ſelbſt ſehen, wie weit ſie ſich uͤbertra- gen laſſen.
Das
B 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0025"n="21"/><p>Aber auch das iſt noch nicht eigentlich Ge-<lb/>
neſis des Enthuſiasmus, uͤber welchen Sie mir<lb/>
Vorwuͤrfe machen: denn ſonſt waͤre er vielleicht<lb/>
nichts als individuelles Blendwerk, ein bloſſes<lb/>
Meergeſpenſt, das mir erſcheinet. Wiſſen<lb/>
Sie alſo, daß ich ſelbſt Gelegenheit gehabt,<lb/>
lebendige Reſte dieſes alten, wilden Geſanges,<lb/>
Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Voͤlkern<lb/>
zu ſehen, denen unſre Sitten noch nicht voͤllig<lb/>
Sprache und Lieder und Gebraͤuche haben neh-<lb/>
men koͤnnen, um ihnen dafuͤr etwas ſehr Ver-<lb/>ſtuͤmmeltes oder Nichts zu geben. Wiſſen Sie<lb/>
alſo, daß, wenn ich einen ſolchen alten ——<lb/>
Geſang mit ſeinem wilden Gange gehoͤrt, ich<lb/>
faſt immer, wie der franzoͤſiſche Marcell ge-<lb/>ſtanden: <hirendition="#aq">que de choſes dans un menuet!</hi><lb/>
oder vielmehr, was haben ſolche Voͤlker durch<lb/>
Umtauſch ihrer Geſaͤnge gegen eine verſtuͤm-<lb/>
melte Menuet, und Reimleins, die dieſer Me-<lb/>
nuet gleich ſind, gewonnen? —</p><lb/><p>Sie kennen die beyden <hirendition="#fr">lettiſchen Lieder-<lb/>
chen,</hi> die <hirendition="#fr">Leßing</hi> in den <hirendition="#fr">Litteraturbrie-<lb/>
fen</hi> aus <hirendition="#fr">Ruhig</hi> anzog, und wiſſen, wie viel<lb/>ſinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We-<lb/>ſen liegen mußte; laſſen Sie mich itzt ein paar<lb/><hirendition="#fr">Peruaniſche</hi> aus <hirendition="#fr">Garcilaſſo di Vega</hi> zie-<lb/>
hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth-<lb/>
mus ſo viel moͤglich uͤbertragen; Sie werden<lb/>
aber gleich ſelbſt ſehen, wie weit ſie ſich uͤbertra-<lb/>
gen laſſen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">B 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Das</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[21/0025]
Aber auch das iſt noch nicht eigentlich Ge-
neſis des Enthuſiasmus, uͤber welchen Sie mir
Vorwuͤrfe machen: denn ſonſt waͤre er vielleicht
nichts als individuelles Blendwerk, ein bloſſes
Meergeſpenſt, das mir erſcheinet. Wiſſen
Sie alſo, daß ich ſelbſt Gelegenheit gehabt,
lebendige Reſte dieſes alten, wilden Geſanges,
Rhytmus, Tanzes, unter lebenden Voͤlkern
zu ſehen, denen unſre Sitten noch nicht voͤllig
Sprache und Lieder und Gebraͤuche haben neh-
men koͤnnen, um ihnen dafuͤr etwas ſehr Ver-
ſtuͤmmeltes oder Nichts zu geben. Wiſſen Sie
alſo, daß, wenn ich einen ſolchen alten — —
Geſang mit ſeinem wilden Gange gehoͤrt, ich
faſt immer, wie der franzoͤſiſche Marcell ge-
ſtanden: que de choſes dans un menuet!
oder vielmehr, was haben ſolche Voͤlker durch
Umtauſch ihrer Geſaͤnge gegen eine verſtuͤm-
melte Menuet, und Reimleins, die dieſer Me-
nuet gleich ſind, gewonnen? —
Sie kennen die beyden lettiſchen Lieder-
chen, die Leßing in den Litteraturbrie-
fen aus Ruhig anzog, und wiſſen, wie viel
ſinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem We-
ſen liegen mußte; laſſen Sie mich itzt ein paar
Peruaniſche aus Garcilaſſo di Vega zie-
hen, die ich nach Worten, Klang, und Rhyth-
mus ſo viel moͤglich uͤbertragen; Sie werden
aber gleich ſelbſt ſehen, wie weit ſie ſich uͤbertra-
gen laſſen.
Das
B 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/25>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.