Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

res rauheres Volk, als die weich idealisirten
Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht be-
kannt, wo sanfte Empfindung ströme: ihr Tritt
ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde,
und in Absicht auf solche Bearbeitung und Kul-
tur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das
sich mit den Ossianschen darinn vergleichen lasse.
Aber sehen sie einmal im Worm, im Bar-
tholin,
im Peristiold, und Verel ihre Ge-
dichte an -- wie viel Sylbenmaasse! wie ge-
nau jedes unmittelbar durch den fühlbaren
Takt des Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssyl-
ben mitten in den Versen symmetrisch aufge-
zählt, gleichsam Losungen zum Schlage des
Takts, Anschläge zum Tritt, zum Gange des
Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchstaben
zum Anstoß, zum Schallen des Bardengesan-
ges in die Schilde! Disticha und Verse sich ent-
sprechend! Vokale gleich! Sylben Conson --
wahrhaftig eine Rythmik des Verses, so künst-
lich, so schnell, so genau, daß es uns Bücherge-
lehrten schwer wird, sie nur mit den Augen auf-
zufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen
lebendigen Völkern, die sie hörten und nicht la-
sen, von Jugend auf hörten und mit sangen,
und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten,
eben so schwer gewesen sey. Nichts ist stärker
und ewiger, und schneller, und feiner, als Ge-
wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie

lange

res rauheres Volk, als die weich idealiſirten
Schotten: mir iſt von jenen kein Gedicht be-
kannt, wo ſanfte Empfindung ſtroͤme: ihr Tritt
iſt ganz auf Felſen und Eis und gefrorner Erde,
und in Abſicht auf ſolche Bearbeitung und Kul-
tur iſt mir von ihnen kein Stuͤck bekannt, das
ſich mit den Oſſianſchen darinn vergleichen laſſe.
Aber ſehen ſie einmal im Worm, im Bar-
tholin,
im Periſtiold, und Verel ihre Ge-
dichte an — wie viel Sylbenmaaſſe! wie ge-
nau jedes unmittelbar durch den fuͤhlbaren
Takt des Ohrs beſtimmt! aͤhnliche Anfangsſyl-
ben mitten in den Verſen ſymmetriſch aufge-
zaͤhlt, gleichſam Loſungen zum Schlage des
Takts, Anſchlaͤge zum Tritt, zum Gange des
Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchſtaben
zum Anſtoß, zum Schallen des Bardengeſan-
ges in die Schilde! Diſticha und Verſe ſich ent-
ſprechend! Vokale gleich! Sylben Conſon —
wahrhaftig eine Rythmik des Verſes, ſo kuͤnſt-
lich, ſo ſchnell, ſo genau, daß es uns Buͤcherge-
lehrten ſchwer wird, ſie nur mit den Augen auf-
zufinden; aber denken Sie nicht, daß ſie jenen
lebendigen Voͤlkern, die ſie hoͤrten und nicht la-
ſen, von Jugend auf hoͤrten und mit ſangen,
und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten,
eben ſo ſchwer geweſen ſey. Nichts iſt ſtaͤrker
und ewiger, und ſchneller, und feiner, als Ge-
wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie

lange
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0017" n="13"/>
res rauheres Volk, als die weich ideali&#x017F;irten<lb/>
Schotten: mir i&#x017F;t von jenen kein Gedicht be-<lb/>
kannt, wo &#x017F;anfte Empfindung &#x017F;tro&#x0364;me: ihr Tritt<lb/>
i&#x017F;t ganz auf Fel&#x017F;en und Eis und gefrorner Erde,<lb/>
und in Ab&#x017F;icht auf &#x017F;olche Bearbeitung und Kul-<lb/>
tur i&#x017F;t mir von ihnen kein Stu&#x0364;ck bekannt, das<lb/>
&#x017F;ich mit den O&#x017F;&#x017F;ian&#x017F;chen darinn vergleichen la&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Aber &#x017F;ehen &#x017F;ie einmal im <hi rendition="#fr">Worm,</hi> im <hi rendition="#fr">Bar-<lb/>
tholin,</hi> im <hi rendition="#fr">Peri&#x017F;tiold,</hi> und <hi rendition="#fr">Verel</hi> ihre Ge-<lb/>
dichte an &#x2014; wie viel Sylbenmaa&#x017F;&#x017F;e! wie ge-<lb/>
nau jedes unmittelbar durch den fu&#x0364;hlbaren<lb/>
Takt des Ohrs be&#x017F;timmt! a&#x0364;hnliche Anfangs&#x017F;yl-<lb/>
ben mitten in den Ver&#x017F;en &#x017F;ymmetri&#x017F;ch aufge-<lb/>
za&#x0364;hlt, gleich&#x017F;am Lo&#x017F;ungen zum Schlage des<lb/>
Takts, An&#x017F;chla&#x0364;ge zum Tritt, zum Gange des<lb/>
Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuch&#x017F;taben<lb/>
zum An&#x017F;toß, zum Schallen des Bardenge&#x017F;an-<lb/>
ges in die Schilde! Di&#x017F;ticha und Ver&#x017F;e &#x017F;ich ent-<lb/>
&#x017F;prechend! Vokale gleich! Sylben Con&#x017F;on &#x2014;<lb/>
wahrhaftig eine Rythmik des Ver&#x017F;es, &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
lich, &#x017F;o &#x017F;chnell, &#x017F;o genau, daß es uns Bu&#x0364;cherge-<lb/>
lehrten &#x017F;chwer wird, &#x017F;ie nur mit den Augen auf-<lb/>
zufinden; aber denken Sie nicht, daß &#x017F;ie jenen<lb/>
lebendigen Vo&#x0364;lkern, die &#x017F;ie ho&#x0364;rten und nicht la-<lb/>
&#x017F;en, von Jugend auf ho&#x0364;rten und mit &#x017F;angen,<lb/>
und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten,<lb/>
eben &#x017F;o &#x017F;chwer gewe&#x017F;en &#x017F;ey. Nichts i&#x017F;t &#x017F;ta&#x0364;rker<lb/>
und ewiger, und &#x017F;chneller, und feiner, als Ge-<lb/>
wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lange</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0017] res rauheres Volk, als die weich idealiſirten Schotten: mir iſt von jenen kein Gedicht be- kannt, wo ſanfte Empfindung ſtroͤme: ihr Tritt iſt ganz auf Felſen und Eis und gefrorner Erde, und in Abſicht auf ſolche Bearbeitung und Kul- tur iſt mir von ihnen kein Stuͤck bekannt, das ſich mit den Oſſianſchen darinn vergleichen laſſe. Aber ſehen ſie einmal im Worm, im Bar- tholin, im Periſtiold, und Verel ihre Ge- dichte an — wie viel Sylbenmaaſſe! wie ge- nau jedes unmittelbar durch den fuͤhlbaren Takt des Ohrs beſtimmt! aͤhnliche Anfangsſyl- ben mitten in den Verſen ſymmetriſch aufge- zaͤhlt, gleichſam Loſungen zum Schlage des Takts, Anſchlaͤge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchſtaben zum Anſtoß, zum Schallen des Bardengeſan- ges in die Schilde! Diſticha und Verſe ſich ent- ſprechend! Vokale gleich! Sylben Conſon — wahrhaftig eine Rythmik des Verſes, ſo kuͤnſt- lich, ſo ſchnell, ſo genau, daß es uns Buͤcherge- lehrten ſchwer wird, ſie nur mit den Augen auf- zufinden; aber denken Sie nicht, daß ſie jenen lebendigen Voͤlkern, die ſie hoͤrten und nicht la- ſen, von Jugend auf hoͤrten und mit ſangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, eben ſo ſchwer geweſen ſey. Nichts iſt ſtaͤrker und ewiger, und ſchneller, und feiner, als Ge- wohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lange

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/17
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/17>, abgerufen am 23.11.2024.