Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

blieben, und habe jener ungeheuern unerträg-
lichen Manier, die noch zu unserer Väter Zei-
ten unter dem Namen der gothischen Baukunst
gewöhnlich gewesen, Platz gelassen. Jm 16ten
Abschnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt
er, die gothischen Gebäude hätten, im Ganzen
genommen, doch lauter Verhältnisse nach den
Regeln der Kunst, und man könne mitten unter
den vielen kleinen schlechten Zierrathen, womit
sie überhäuft wären, dennoch ihre Symmetrie
nicht verkennen. Zum Beweise führt er im fol-
genden Abschnitte die alte Zeichnung der Vor-
derseite, welche von Cäsarini erhalten worden
ist, an.

Barattieri schrieb 1651 in seiner Abhand-
lung von der Verzierung des Doms: der Er-
finder habe in seinem Gehirne ein Chaos gothi-
scher Bizarrerie erschaffen. Fast gleichergestalt
behauptet der berühmte Vanritelli, es sey un-
ter allen Leuten von gesundem Urtheile ausge-
macht, daß die gothische Manier, sowohl in An-
sehung der Kapitäle als der Säulen selbst und
aller andern Verzierungen allein von dem Ver-
fall der guten Baukunst ihren Ursprung habe,
und wäre die gute Baukunst nicht verfallen, so
würde man gewiß auch den Dom nicht haben.

Aber von den Mathematikern auf Reisebe-
schreiber zu kommen, muß ich anführen, daß
Misson, Pomponne und viele andre den Bo-

den
L

blieben, und habe jener ungeheuern unertraͤg-
lichen Manier, die noch zu unſerer Vaͤter Zei-
ten unter dem Namen der gothiſchen Baukunſt
gewoͤhnlich geweſen, Platz gelaſſen. Jm 16ten
Abſchnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt
er, die gothiſchen Gebaͤude haͤtten, im Ganzen
genommen, doch lauter Verhaͤltniſſe nach den
Regeln der Kunſt, und man koͤnne mitten unter
den vielen kleinen ſchlechten Zierrathen, womit
ſie uͤberhaͤuft waͤren, dennoch ihre Symmetrie
nicht verkennen. Zum Beweiſe fuͤhrt er im fol-
genden Abſchnitte die alte Zeichnung der Vor-
derſeite, welche von Caͤſarini erhalten worden
iſt, an.

Barattieri ſchrieb 1651 in ſeiner Abhand-
lung von der Verzierung des Doms: der Er-
finder habe in ſeinem Gehirne ein Chaos gothi-
ſcher Bizarrerie erſchaffen. Faſt gleichergeſtalt
behauptet der beruͤhmte Vanritelli, es ſey un-
ter allen Leuten von geſundem Urtheile ausge-
macht, daß die gothiſche Manier, ſowohl in An-
ſehung der Kapitaͤle als der Saͤulen ſelbſt und
aller andern Verzierungen allein von dem Ver-
fall der guten Baukunſt ihren Urſprung habe,
und waͤre die gute Baukunſt nicht verfallen, ſo
wuͤrde man gewiß auch den Dom nicht haben.

Aber von den Mathematikern auf Reiſebe-
ſchreiber zu kommen, muß ich anfuͤhren, daß
Miſſon, Pomponne und viele andre den Bo-

den
L
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0165" n="161"/>
blieben, und habe jener ungeheuern unertra&#x0364;g-<lb/>
lichen Manier, die noch zu un&#x017F;erer Va&#x0364;ter Zei-<lb/>
ten unter dem Namen der gothi&#x017F;chen Baukun&#x017F;t<lb/>
gewo&#x0364;hnlich gewe&#x017F;en, Platz gela&#x017F;&#x017F;en. Jm 16ten<lb/>
Ab&#x017F;chnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt<lb/>
er, die gothi&#x017F;chen Geba&#x0364;ude ha&#x0364;tten, im Ganzen<lb/>
genommen, doch lauter Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e nach den<lb/>
Regeln der Kun&#x017F;t, und man ko&#x0364;nne mitten unter<lb/>
den vielen kleinen &#x017F;chlechten Zierrathen, womit<lb/>
&#x017F;ie u&#x0364;berha&#x0364;uft wa&#x0364;ren, dennoch ihre Symmetrie<lb/>
nicht verkennen. Zum Bewei&#x017F;e fu&#x0364;hrt er im fol-<lb/>
genden Ab&#x017F;chnitte die alte Zeichnung der Vor-<lb/>
der&#x017F;eite, welche von Ca&#x0364;&#x017F;arini erhalten worden<lb/>
i&#x017F;t, an.</p><lb/>
        <p>Barattieri &#x017F;chrieb 1651 in &#x017F;einer Abhand-<lb/>
lung von der Verzierung des Doms: der Er-<lb/>
finder habe in &#x017F;einem Gehirne ein Chaos gothi-<lb/>
&#x017F;cher Bizarrerie er&#x017F;chaffen. Fa&#x017F;t gleicherge&#x017F;talt<lb/>
behauptet der beru&#x0364;hmte Vanritelli, es &#x017F;ey un-<lb/>
ter allen Leuten von ge&#x017F;undem Urtheile ausge-<lb/>
macht, daß die gothi&#x017F;che Manier, &#x017F;owohl in An-<lb/>
&#x017F;ehung der Kapita&#x0364;le als der Sa&#x0364;ulen &#x017F;elb&#x017F;t und<lb/>
aller andern Verzierungen allein von dem Ver-<lb/>
fall der guten Baukun&#x017F;t ihren Ur&#x017F;prung habe,<lb/>
und wa&#x0364;re die gute Baukun&#x017F;t nicht verfallen, &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde man gewiß auch den Dom nicht haben.</p><lb/>
        <p>Aber von den Mathematikern auf Rei&#x017F;ebe-<lb/>
&#x017F;chreiber zu kommen, muß ich anfu&#x0364;hren, daß<lb/>
Mi&#x017F;&#x017F;on, Pomponne und viele andre den Bo-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L</fw><fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0165] blieben, und habe jener ungeheuern unertraͤg- lichen Manier, die noch zu unſerer Vaͤter Zei- ten unter dem Namen der gothiſchen Baukunſt gewoͤhnlich geweſen, Platz gelaſſen. Jm 16ten Abſchnitte des 5ten Theils im 5ten B. bemerkt er, die gothiſchen Gebaͤude haͤtten, im Ganzen genommen, doch lauter Verhaͤltniſſe nach den Regeln der Kunſt, und man koͤnne mitten unter den vielen kleinen ſchlechten Zierrathen, womit ſie uͤberhaͤuft waͤren, dennoch ihre Symmetrie nicht verkennen. Zum Beweiſe fuͤhrt er im fol- genden Abſchnitte die alte Zeichnung der Vor- derſeite, welche von Caͤſarini erhalten worden iſt, an. Barattieri ſchrieb 1651 in ſeiner Abhand- lung von der Verzierung des Doms: der Er- finder habe in ſeinem Gehirne ein Chaos gothi- ſcher Bizarrerie erſchaffen. Faſt gleichergeſtalt behauptet der beruͤhmte Vanritelli, es ſey un- ter allen Leuten von geſundem Urtheile ausge- macht, daß die gothiſche Manier, ſowohl in An- ſehung der Kapitaͤle als der Saͤulen ſelbſt und aller andern Verzierungen allein von dem Ver- fall der guten Baukunſt ihren Urſprung habe, und waͤre die gute Baukunſt nicht verfallen, ſo wuͤrde man gewiß auch den Dom nicht haben. Aber von den Mathematikern auf Reiſebe- ſchreiber zu kommen, muß ich anfuͤhren, daß Miſſon, Pomponne und viele andre den Bo- den L

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/165
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/165>, abgerufen am 07.05.2024.