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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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denschaft, Gedankenfolge und Maaß der
Aufmerksamkeit in oder ausserhalb der Seele
sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller
des Drama, nie Zeiten in deinem Leben ge-
habt, wo dir Stunden zu Augenblicken und
Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch
Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu
Jahren geworden sind? Hast du keine Si-
tuationen in deinem Leben gehabt, wo deine
Seele Einmal ganz ausser dir wohnte, hier
in diesem romantischen Zimmer deiner Ge-
liebten, dort auf jener starren Leiche, hier
in diesem Drückenden äusserer, beschämen-
der Noth -- jetzt wieder über Welt und
Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden
überspringet, alles um sich vergaß, und im
Himmel, in der Seele, im Herzen dessen
bist, dessen Exsistenz du nun empfindest? Und
wenn das in deinem trägen, schläfrigen Wurm-
und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wur-
zeln gnug am todten Boden deiner Stelle
festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest,
dir langsames Moment gnug ist, deinen
Wurmgang auszumessen -- nun denke dich
Einen Augenblick in Eine andre, eine Dich-
terwelt nur in einen Traum? Hast du nie
gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit
schwinden? was das also für unwesentliche
Dinge, für Schatten gegen das was Hand-

lung,

denſchaft, Gedankenfolge und Maaß der
Aufmerkſamkeit in oder auſſerhalb der Seele
ſind? Haſt du denn, gutherziger Uhrſteller
des Drama, nie Zeiten in deinem Leben ge-
habt, wo dir Stunden zu Augenblicken und
Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch
Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu
Jahren geworden ſind? Haſt du keine Si-
tuationen in deinem Leben gehabt, wo deine
Seele Einmal ganz auſſer dir wohnte, hier
in dieſem romantiſchen Zimmer deiner Ge-
liebten, dort auf jener ſtarren Leiche, hier
in dieſem Druͤckenden aͤuſſerer, beſchaͤmen-
der Noth — jetzt wieder uͤber Welt und
Zeit hinausflog, Raͤume und Weltgegenden
uͤberſpringet, alles um ſich vergaß, und im
Himmel, in der Seele, im Herzen deſſen
biſt, deſſen Exſiſtenz du nun empfindeſt? Und
wenn das in deinem traͤgen, ſchlaͤfrigen Wurm-
und Baumleben moͤglich iſt, wo dich ja Wur-
zeln gnug am todten Boden deiner Stelle
feſthalten, und jeder Kreis, den du ſchleppeſt,
dir langſames Moment gnug iſt, deinen
Wurmgang auszumeſſen — nun denke dich
Einen Augenblick in Eine andre, eine Dich-
terwelt nur in einen Traum? Haſt du nie
gefuͤhlt, wie im Traum dir Ort und Zeit
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[106/0110] denſchaft, Gedankenfolge und Maaß der Aufmerkſamkeit in oder auſſerhalb der Seele ſind? Haſt du denn, gutherziger Uhrſteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben ge- habt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden ſind? Haſt du keine Si- tuationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele Einmal ganz auſſer dir wohnte, hier in dieſem romantiſchen Zimmer deiner Ge- liebten, dort auf jener ſtarren Leiche, hier in dieſem Druͤckenden aͤuſſerer, beſchaͤmen- der Noth — jetzt wieder uͤber Welt und Zeit hinausflog, Raͤume und Weltgegenden uͤberſpringet, alles um ſich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen deſſen biſt, deſſen Exſiſtenz du nun empfindeſt? Und wenn das in deinem traͤgen, ſchlaͤfrigen Wurm- und Baumleben moͤglich iſt, wo dich ja Wur- zeln gnug am todten Boden deiner Stelle feſthalten, und jeder Kreis, den du ſchleppeſt, dir langſames Moment gnug iſt, deinen Wurmgang auszumeſſen — nun denke dich Einen Augenblick in Eine andre, eine Dich- terwelt nur in einen Traum? Haſt du nie gefuͤhlt, wie im Traum dir Ort und Zeit ſchwinden? was das alſo fuͤr unweſentliche Dinge, fuͤr Schatten gegen das was Hand- lung,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/110>, abgerufen am 08.05.2024.