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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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derbare Epopee von den Handlungen und Reden
aller Wesen ist! Also eine beständige Fabeldichtung
mit Leidenschaft und Jnteresse! -- Was ist Poesie
anders? --

Ferner. Die Tradition des Alterthums sagt;
die erste Sprache des menschlichen Ge-
schlechts sei Gesang gewesen,
und viele gute
musikalische Leute haben geglaubt, die Menschen
könnten diesen Gesang wohl den Vögeln abgelernt
haben -- das ist freilich viel geglaubt! Eine große
wichtige Uhr mit allen ihren scharfen Rädern, und
neugespannten Federn, und Centnergewichten kann
wol ein Glockenspiel von Tönen machen; aber
den neugeschafnen Menschen mit seinen würksa-
men Triebfedern, mit seinen Bedürfnissen, mit
seinen starken Empfindungen, mit seiner fast blind
beschäftigten Aufmerksamkeit, und endlich mit
seiner rohen Kehle dahinsetzen, um die Nachtigall
nachzuäffen, und sich von ihr eine Sprache zu er-
singen, ist, in wie vielen Geschichten der Musik
und Poesie es auch stehe, für mich unbegreiflich.
Freilich wäre eine Sprache durch musikalische Töne

mög-

derbare Epopee von den Handlungen und Reden
aller Weſen iſt! Alſo eine beſtaͤndige Fabeldichtung
mit Leidenſchaft und Jntereſſe! — Was iſt Poeſie
anders? —

Ferner. Die Tradition des Alterthums ſagt;
die erſte Sprache des menſchlichen Ge-
ſchlechts ſei Geſang geweſen,
und viele gute
muſikaliſche Leute haben geglaubt, die Menſchen
koͤnnten dieſen Geſang wohl den Voͤgeln abgelernt
haben — das iſt freilich viel geglaubt! Eine große
wichtige Uhr mit allen ihren ſcharfen Raͤdern, und
neugeſpannten Federn, und Centnergewichten kann
wol ein Glockenſpiel von Toͤnen machen; aber
den neugeſchafnen Menſchen mit ſeinen wuͤrkſa-
men Triebfedern, mit ſeinen Beduͤrfniſſen, mit
ſeinen ſtarken Empfindungen, mit ſeiner faſt blind
beſchaͤftigten Aufmerkſamkeit, und endlich mit
ſeiner rohen Kehle dahinſetzen, um die Nachtigall
nachzuaͤffen, und ſich von ihr eine Sprache zu er-
ſingen, iſt, in wie vielen Geſchichten der Muſik
und Poeſie es auch ſtehe, fuͤr mich unbegreiflich.
Freilich waͤre eine Sprache durch muſikaliſche Toͤne

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[88/0094] derbare Epopee von den Handlungen und Reden aller Weſen iſt! Alſo eine beſtaͤndige Fabeldichtung mit Leidenſchaft und Jntereſſe! — Was iſt Poeſie anders? — Ferner. Die Tradition des Alterthums ſagt; die erſte Sprache des menſchlichen Ge- ſchlechts ſei Geſang geweſen, und viele gute muſikaliſche Leute haben geglaubt, die Menſchen koͤnnten dieſen Geſang wohl den Voͤgeln abgelernt haben — das iſt freilich viel geglaubt! Eine große wichtige Uhr mit allen ihren ſcharfen Raͤdern, und neugeſpannten Federn, und Centnergewichten kann wol ein Glockenſpiel von Toͤnen machen; aber den neugeſchafnen Menſchen mit ſeinen wuͤrkſa- men Triebfedern, mit ſeinen Beduͤrfniſſen, mit ſeinen ſtarken Empfindungen, mit ſeiner faſt blind beſchaͤftigten Aufmerkſamkeit, und endlich mit ſeiner rohen Kehle dahinſetzen, um die Nachtigall nachzuaͤffen, und ſich von ihr eine Sprache zu er- ſingen, iſt, in wie vielen Geſchichten der Muſik und Poeſie es auch ſtehe, fuͤr mich unbegreiflich. Freilich waͤre eine Sprache durch muſikaliſche Toͤne moͤg-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/94>, abgerufen am 25.11.2024.